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Das irische Erbe

Das irische Erbe

Titel: Das irische Erbe
Autoren: Dagmar Clemens
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    E s regnete wieder einmal. Wie die letzten Tage schon. Ein einzelner dicker Tropfen wollte sich offenbar Zeit lassen, denn er rollte gemächlich nach unten, blieb zwischendurch an einem winzigen Schmutzfleck hängen, wie um sich zu sammeln, und rollte dann unverändert langsam weiter.
    Die Fenster waren dreckig, ein grauer Film trübte den Blick nach draußen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Fensterputzer seit Monaten nicht mehr da gewesen waren. Zwei schon ältere Männer im blauen Arbeitsanzug, die freundlich waren und immer ein paar Minuten mit ihr plauderten. Wahrscheinlich hatte man den Vertrag mit der Firma, die neben Gebäudereinigung auch mobile Hausmeistertätigkeiten anbot, nicht verlängert. Das tat ihr leid. Sie hoffte, dass dies keine Auswirkungen auf die Männer hatte, die in ihrem Alter kaum eine neue Anstellung finden würden.
    Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Hastig nahm sie den Hörer ab.
    »Claire?«
    Viktors helle, etwas atemlose Stimme, die viel jünger klang, als er war.
    »Wann sehen wir uns?«
    Sie spielte mit einem Stift, den sie zwischen Mittel- und Zeigefinger drehte.
    »Heute geht es leider nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich habe zu viel zu tun«, sagte sie schnell. »Ich habe gleich eine Präsentation.«
    »Seit wann machst du denn Präsentationen?«
    »Ich, äh...«, der Stift flog in einem Bogen hoch und landete vor der Tür. »Seit Kurzem. Und anschließend muss ich noch einiges für die Quartalssitzung vorbereiten.«
    Es gab nicht nur Quartalssitzungen, sondern auch Sitzungen an jedem Montag, die sogenannte › Montagsrunde ‹, und tägliche kurze Sitzungen um elf. Der neue Chef liebte Besprechungen.
    »Ach so«, er klang niedergeschlagen. »Schade.«
    »Wir sehen uns doch am Wochenende«, tröstete sie ihn und verdrängte schnell das Bild seines enttäuschten Gesichts.
    »Du hast recht, ich freue mich darauf. Bis dahin.«
    Mit einem Seufzen legte Claire auf.
    Unlustig blickte sie auf die vor ihr liegenden Unterlagen für die Quartalssitzung. Sie waren vollständig, aber für die nächste Montagsrunde fehlten ihr die Tagesordnungspunkte, die Pessoa ihr noch nennen wollte. Er gab sie ihr immer erst auf Anfrage, statt sie ihr unaufgefordert per Mail zu übermitteln, wie Dick Rogers es immer getan hatte. Aber Pessoa war nicht mit ihrem früheren Chef zu vergleichen. Bei ihm hatte ihr die Arbeit Spaß gemacht. Sie musste keine langweiligen Statistiken oder Kalkulationen erstellen. Und es gab auch keine monatlichen Zielsetzungen, die immer wieder überprüft und abgeändert wurden, weil sie in der Regel nicht zu erreichen waren.
    Als Dick Rogers noch lebte, freute sie sich jeden Tag auf ihre Arbeit in der Verwaltung einer Hotelkette. Damals gehörte es unter anderem zu ihren Aufgaben, die Hotels der Kette aufzusuchen, um Probleme vor Ort zu klären. Meistens waren sie zusammen unterwegs gewesen, aber manchmal war sie auch alleine gefahren, wenn Dick Rogers verhindert war. Sie mochte den Kontakt zu den Menschen und liebte die lässige Atmosphäre der Hotels. Im Laufe der Zeit kannte sie fast alle Hoteldirektoren persönlich und wusste sogar einiges über deren Familien.
    Als ihr Chef unerwartet starb, nahm Conrad Pessoa dessen Stelle ein. Und damit änderte sich auch ihr Arbeitsgebiet. Sie wurde sofort mit unterschiedlichen Verwaltungsaufgaben betraut, die sie langweilig und überflüssig fand. Als sie sich kurz nach seinem Arbeitsantritt bei Conrad Pessoa darüber beschwerte, sagte er nur, sie sei für das Controlling zuständig und dazu gehörten nun einmal auch Statistiken. Und gerade diese seien in den letzten Jahren stark vernachlässigt worden. Das stimmte sogar.
    Claire erhob sich und bückte sich nach dem Stift.
    Conrad Pessoa war noch keine Woche im Dienst, als er ihr mitteilte, dass er von nun an die Hotels aufsuchen würde, wenn es sein musste. Er sagte, die dauernden Dienstreisen seien zu teuer und ineffizient und er habe vor, den Kontakt auf Telefonate zu beschränken. Und so hielt er es auch. Einige der Hoteldirektoren beschwerten sich bei ihr, aber ihr waren die Hände gebunden.
    Anstatt direkt in den Hotels Lösungen für aufgetretene Schwierigkeiten zu finden, musste sie Berge von Papieren durcharbeiten, weil ihr Chef auch für die letzten fünf Jahre Zahlen verlangte. Außerdem sollte sie die Organisation der elektronischen Ablage überwachen, eine banale Arbeit, die jeder Praktikant ohne Vorkenntnisse erledigen konnte. Sie kochte vor Wut, konnte aber
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