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Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)

Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)

Titel: Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
Autoren: Gill Lewis
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Kapitel 1
    Ich reiße noch eine Seite aus dem Buch.
    Das Papier ist dünn wie Seide und hat eine goldene Kante. Es flattert in meiner Hand wie ein winziges Vögelchen, das zu verzweifelt ist, um zu fliehen. Ich lasse das Blatt los und sehe, wie es in den klaren, blauen Himmel davonfliegt.
    Ich reiße noch eine Seite heraus und noch eine. Die Blätter schwingen sich in die Höhe, taumeln über die Weiden, auf denen ein paar Kühe grasen, und verschwinden im Dunst, der überm silberblauen Meer schwebt.
    »He, Kara!«
    Ich blicke von der Mauer hinunter auf Jake. Sein rosarotes Gesicht blinzelt mich gegen das Sonnenlicht an. Ethan steht direkt neben ihm und versucht, sich mit seinen Fingern in den Granitsteinen festzukrallen. Er springt hoch, um mich herunterzuzerren, aber ich ziehe meine Beine zurück.
    Hier oben bin ich sicher.
    »Kara-dumm-wie’n-Holzkopf !«, johlt Jake. »Die Lehrerin sucht dich.«
    Ich fahre mit dem Finger am rauen Ledereinband desBuches entlang. Es liegt schwer auf meinem Schoß. Dann reiße ich noch eine Seite heraus und lasse sie frei. Sie schwingt sich in die Höhe und flattert himmelwärts.
    »Du steckst ganz schön in der Patsche, Kara-Holzkopf«, schreit Jake. »Diese Bibel gehört der Schule. Dafür schicken sie dich in die Hölle!«
    »Da wird sie doch nie ankommen«, ruft Ethan. »Sie kann ja die Wegweiser nicht lesen.«
    Jake lacht. »Kannst du schon deinen Namen buchstabieren, Kara? K-a-r-a W-o-o-d. Kara-so-dumm-wie-zwei-Holzköpfe.«
    Ich habe das alles schon tausend Mal gehört, drehe ihnen den Rücken zu und schaue hinunter auf den Weg auf der anderen Seite der Mauer. In die eine Richtung kommt man zum Küstenpfad, der an den Klippen entlangführt. In die andere Richtung geht es über eine von Brennnesseln und Knöterich umwucherte Treppe runter zur Stadt, zum Hafen.
    »Ich würd gern wissen«, sagt Ethan, »ob Kara Wood so dick ist wie ihr Dad.«
    »Meine Mum meint« – Jake gibt sich vertraulich – »meine Mum meint, dass Karas Dad seinen letzten Job verloren hat, weil er seinen Namen nicht schreiben konnte.«
    Ethan kichert.
    Ich fahre herum und starre sie zornig an. »Halt dein Maul. Lass meinen Vater in Ruhe!«
    Aber Jake ist noch nicht fertig. »Ich hab gehört, deine Mum musste seinen Namen für ihn schreiben. Stimmt das etwa nicht, Kara?«
    Tränen brennen mir in den Augen.
    »Wer schreibt denn jetzt seinen Namen für ihn?«
    Ich blinzle heftig und wende mich wieder dem Meer zu. Die Wellen da draußen tragen weiße Schaumkronen. Ich spüre die warme Sonne im Gesicht. Ich muss nicht weinen. Sie werden mich nicht weinen sehen. Wenn ich sie nicht beachte, gehen sie wieder weg. So machen sie es immer. Der Wind, der vom Meer her weht, ist feucht und salzig. Er fängt sich im Baumwollstoff meines weißen Shirts und bauscht es auf wie ein Spinnakersegel. Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, wie ich über einen unendlichen Ozean segle, über ein weites, blaues Meer, mit nichts um mich herum als Sonne, Wind und Himmel.
    »He, Kara!«
    Jake ist immer noch da.
    »Es ist eine Schande mit der Merry Mermaid !«, ruft er.
    Wenn Jake etwas über die Merry Mermaid weiß, dann wissen es alle.
    Ich drehe mich um und sehe ihn an.
    Aus einiger Entfernung beobachten uns ein paar andere Kinder aus der Klasse. Chloe und Ella stehen im tiefen Schatten des Kastanienbaums und schauen in unsere Richtung. Adam hat sein Spiel unterbrochen und drückt seinen Fußball an die Brust.
    »Na ja«, sagt Jake, »viel von einem Pub hatte sie eh nicht. Wird ein tolles Ferienhaus werden, wahrscheinlich für einen reichen Londoner. Ich hab gehört, das Essen war miserabel.«
    Jake weiß, dass mein Dad in der Küche der Merry Mermaid arbeitet. Er weiß, dass er keinen Job und kein Geld zum Leben haben wird, wenn die Kneipe Ende des Sommers schließt. Jake würde es gefallen, wenn wir aus Cornwall wegziehen müssten.
    »Vielleicht kann dein Dad zurückkommen und für mich auf einem unserer Trawler arbeiten«, sagt Jake. »Sag ihm, dass wir Austern und Krebse fischen, wenn das Fangverbot aufgehoben wird, in zehn Tagen also. Mein Dad hat schon eine neue Ausrüstung gekauft und dann wird er jedes Eckchen Meeresboden dort draußen umpflügen. Er kann’s kaum erwarten.«
    Ich starre ihn einfach nur an.
    Jake lacht. »Ich werd ihn fragen, ob du auch helfen kannst.«
    Ich umklammere den harten Ledereinband der Bibel noch fester. Von drüben kommt Mrs Carter auf uns zu. Ich könnte versuchen, das Buch zu
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