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Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)

Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)

Titel: Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
Autoren: Gill Lewis
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zähle die stufigen Felskanten. Millionen um Millionen von Erdenjahren haben sich hier zusammengequetscht. Mum sagte immer, wir seien wie Forscher, die zurück in die Vergangenheit reisen.
    Die Flut hat den kleinen Strand überspült. Ich bewege mich langsam auf die flachen Felsen zu, die über die Bucht hinaus ins Meer ragen. Manchmal kommen hier Robben aus dem Wasser und aalen sich in der Sonne. Ich drücke meinen Rücken gegen einen Felsbogen, der von Wind und Wellen ebenmäßig ausgehöhlt wurde.
    Mum und ich saßen gerne hier und hielten nach Delfinen Ausschau. Ich stellte mir vor, dass Mum ganz besondereKräfte hätte, als könne sie die Tiere irgendwie fühlen oder sie durchs Wasser rufen hören. Manchmal warteten wir stundenlang, aber Mum wusste immer, dass sie kommen würden. Wie magische Geschöpfe tauchten sie dann aus einer anderen Welt auf, das Sonnenlicht schimmerte auf ihren Rücken, und wenn sie aus dem Wasser emporschnellten und ausatmeten, explodierte förmlich die Luft. Sie sprangen und schlugen Purzelbäume, nur für uns, so schien es. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wir seien Auserwählte, als wollten sie uns einen flüchtigen Blick in ihre Welt gewähren.
    Seit Mum uns verlassen hat, war ich nicht mehr hier gewesen. Ich schlinge die Arme um meine Knie und blicke hinaus auf das goldene, spiegelglatte Meer. Der Kranz der Sonne berührt den Horizont und lässt das Licht ins Wasser fließen. Den ganzen Tag habe ich auf ein Zeichen von Mum gewartet, aber jetzt ist es zu spät. Die Sonne ist fast verschwunden.
    Vielleicht hat Dad recht und es gibt keine Zeichen, nach denen wir suchen sollten.
    Vielleicht muss ich akzeptieren, dass Mum niemals zurückkehrt.
    Ich beobachte die letzten Strahlen der Sonne, die wie Leuchtfeuer über den Himmel flackern.
    Und dann sehe ich es.
    Über dem Wasser blitzt etwas weiß auf.
    Das letzte Licht der Sonne funkelt auf dem sanft gewölbten Körper, bevor der Delfin wieder ins Meer eintaucht.
    Das ist das Zeichen, auf das ich gewartet habe.
    Ich weiß es einfach.
    So muss es sein.
    Der Delfin schießt noch einmal aus dem Wasser.
    Er ist weiß, ganz weiß.
    Andere Delfine sehe ich auch, sehe, wie die grauen, stromlinienförmigen Körper durchs Wasser gleiten. Es müssen wenigstens fünfzig sein, eine große Schule. Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen. Ihre Blaslaute durchbrechen die Stille.
    Aber ich suche den weißen Delfin. Schließlich sehe ich ihn wieder. Er ist viel kleiner als die anderen. Im verglühenden Sonnenlicht scheint sein heller Körper rosarot und golden getönt. Dicht an seiner Seite schwimmt ein viel größerer Delfin. Vollkommen synchron durchbrechen Muttertier und Kalb zusammen die Wasseroberfläche. Sie schwimmen Seite an Seite hinaus ins offene Meer. Ich schlinge die Arme um mich und mir wird trotz der kühlen Abendluft warm. Irgendwie fühle ich mich Mum so nahe, als stünde sie direkt neben mir, als hätte sie mir die Delfine geschickt. Fast kann ich Mums Gesicht sehen, ihr großes breites Lächeln. Wo immer sie in diesem Augenblick sein mag, ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob auch sie gerade an mich denkt.
    Ich schaue den Delfinen nach, bis ich die Umrisse der dunklen Flossen über dem Wasser nicht mehr sehen kann. Unter einem mit Sternen übersäten Dämmerhimmel hat sich das Meer verfinstert. Die Silhouetten zweier Austernfischergleiten mit festem, schnellem Flügelschlag übers Wasser. Mehr ist nicht zu sehen.
    Ich weiß, dass Dad mich inzwischen zu Hause erwartet. Ich klettere über die Klippen hoch zum Küstenpfad, der vom Abhang bis zu den Feldern führt. Die Luft ist frisch und vom Tau ganz feucht. Er hat sich als bleicher Nebel über den Weizenfeldern festgesetzt, die landeinwärts liegen. Das Zwischenlicht der Abenddämmerung bewahrt alles in einer eigentümlichen Stille, als ob die Zeit den Atem angehalten hätte.
    Und für mich fühlt sich das so an, als würde sich gerade jetzt alles verändern.

Kapitel 5
    Der Asphalt auf der Küstenstraße ist vom sonnigen Tag noch ganz warm. Von hier aus sind es mehr als zwei Meilen bis nach Hause. Hoffentlich wartet Dad nicht auf mich. Er hat heute Spätschicht im Pub, also kann ich vielleicht ins Haus schlüpfen, ohne von ihm bemerkt zu werden.
    Ich bin noch gar nicht weit die Straße entlanggelaufen, da hält schon ein Wagen. Seine Scheinwerfer blenden mich. Das Beifahrerfenster gleitet nach unten. »KARA! Bist du das?«
    Es ist Tante Bev. Sie lehnt sich von der Fahrerseite
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