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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
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hörte.    
    Charles Wilkins, dreiundfünfzig,
     aus Tennessee, war als Tourist unterwegs in Berlin. Nachdem nun seine vier
     Töchter fast alle verheiratet waren, drei de facto und die jüngste
     beinahe, wollte der Bankbeamte endlich die Stadt besuchen, in der sein
     Vater, damals Infanterist und Sieger des World War II, jenes magere und
     hohlwangige Frollein geehelicht hatte, das bald darauf Charlies Mutter
     wurde. Heute hatte er schon den Bundestag besichtigt und das Brandenburger
     Tor, er war auf dem Spreekanal Boot gefahren und hatte in Treptow den
     letzten erhaltenen Wachturm der Mauer inspiziert, etwas enttäuscht
     von dem mickrigen und verschlossenen Gebäude, das den Namen Gebäude
     kaum verdiente. Der Anblick der Oberbaumbrücke hatte ihn einigermaßen
     versöhnt. Von soviel ungewohnter Aktivität hungrig geworden,
     konnte er sich für keines der vielen möglichen Lokale
     entscheiden, betrat deswegen, auch um Reisegeld zu sparen, eine Filiale
     jener Fastfoodkette, die ihn zu dem gemacht hatte, was er wog. Ungefähr
     130 Kilo.
    In seine dreizehn Jahre jüngere
     Kollegin Lidia war Nabel ebenso unglücklich wie klammheimlich
     verliebt. Er hielt sie ihres streberischen Auftretens wegen für gefühlskalt,
     und Lidia tat wenig, um diesen Eindruck zu relativieren. Sie war
     ehrgeizig, doch zum Glück nicht karrieregeil. War an der Lösung
     der Fälle interessiert, nicht am schnellen persönlichen
     Aufstieg. Wäre das anders gewesen, hätte es Gelegenheiten genug
     für sie gegeben, Nabel blöd dastehen zu lassen. Stattdessen
     hatte sie ihn oft gedeckt, wofür Nabel sie umso mehr liebte, ohne
     aber seine Liebe je anders anzudeuten als mit einem dankbaren Zwinkern.
     Lidia hatte einen Freund, von dem sie nie erzählte, mit dem sie nicht
     zusammenlebte, der ihren Beruf haßte und an der Börse endlich
     reich genug werden wollte, um sie von dieser Arbeit zu ›erlösen‹.
     Dabei hing Kriminaloberkommissarin Lidia Rauch mit solcher Leidenschaft an
     ihrem Beruf, daß der Konflikt vorprogrammiert und ein Ende jener
     Beziehung schon abzusehen schien. Nur der Zusammenbruch der Börsen
     hatte die Trennung noch jahrelang hinausgeschoben. Nabel, nicht ganz
     schlank, groß, dunkelhaarig und grünäugig, war keineswegs
     Lidias bevorzugter Typ, aber sie fand ihn nicht nur leidlich gut
     aussehend, sie empfand Sympathie und, ja, man muß es so sagen
     – Mitleid für ihn, er war freundlich und, bis auf gelegentliche
     Depressionen, witzig, auf eine trocken-sarkastische Art, die gelegentlich
     in Zynismus umschlug. An der Mordkommission gefiel ihm besonders, daß
     die Opfer tot waren und ihm nicht auf die Nerven gehen konnten. So hätte
     es Nabel selbst ausgedrückt. Anders, seiner Natur angemessener
     gesagt, besaß er eine sehr sentimentale Ader, hatte damals, im
     Betrugsdezernat, unter emotionalen Problemen mit noch lebenden Opfern und
     deren Elend gelitten und es nie verstanden, Beruf und Feierabend zu
     trennen, abzuschalten. Im Grunde war Nabel ein hilfsbereiter, an der Welt
     müde gewordener Mensch. Vor einer Woche hatte er – alleine
     – seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert und sich mit der
     Feststellung Mut gemacht, daß er zwei Jahre jünger war als Tom
     Cruise. Und dies – das war das Schönste – würde bis
     ans Ende seines Lebens so bleiben.   
    Wilkins bestellte im Burger
     King das Triple-Whopper-Menu mit Pommes und Coke Light, nahm
     Extra-Ketchup, Salz und Pfeffer, hievte seinen massigen Hintern auf einen
     der wenigen freien Plätze und wollte zu essen beginnen. Einen Moment
     darauf fiel, warum auch immer, seine Fotoausrüstung von der Bank zu
     Boden. Vielleicht war jemand im Vorübergehen an der Schlaufe hängengeblieben.
     Oder er selbst. Wilkins stieß einen Fluch aus, sah sich die Kamera
     auf dem Boden knieend an, prüfte die Linse. Eine relativ teure
     Kamera, er hatte sie sich von seiner ältesten Tochter geliehen.
    Nabel stand gegen elf Uhr
     morgens auf, nachdem er die halbe Nacht zuvor Papierkram durchgeackert
     hatte.
    Er stellte fest, daß
     der Kühlschrank nicht ausreichend kühlte, es war bereits über
     dreißig Grad heiß draußen, mitten im August, der
     Prosecco besaß nicht die richtige Temperatur, der Tag begann
     schlecht. Sehr schlecht. Demütigend. Wenn ein Kühlschrank nicht
     zuverlässig sein kann, obwohl er ohne Ende Strom bekommen hat, wem
     soll man noch vertrauen, dachte Nabel und goß die vor Durst fast
     schreiende
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