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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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    Es war Abneigung auf den ersten Blick: Eine seit Ewigkeiten nicht mehr geputzte eingestaubte Smogglocke hing über der Stadt. Als die Boeing in diesen gelblichen Dunstkreis eintauchte, hielt Sonja automatisch die Luft an. Der Pilot legte wie zur Beschwichtigung eine extrem sanfte Landung hin, die überwiegend deutschen Fluggäste spendeten Applaus. Napoli Capodichino.
    Die Cockpittür öffnete sich, Heißluft schwappte herein, Saunacharakter, doch ohne verführerische Duftessenzen. Dann im Urlauberpulk in der sengenden Sonne zu Fuß über das Rollfeld. Schweißgebadet betrat Sonja die Ankunftshalle.
    Sie war zum ersten Mal in Neapel und aus ganzem Herzen entschlossen, die Stadt nicht zu mögen. Zwanzig Jahre lang hatte sie versucht, Neapel von der inneren Landkarte zu tilgen. Übrig geblieben war ein weißer Fleck mitten in Italien, um den sie bei all ihren Reisen über die Alpen einen großen Bogen gemacht hatte.
    Gruppengelächter. Ein Stück weiter rechts stand ein Trupp gut gelaunter Deutscher mit Sonnenhüten, Shorts und Shirts, die ihrer Vorfreude auf den Inselurlaub freien Lauf ließen.
    »Kennst du das Land, wo die Orangen blühen …«
    »Das waren Zitronen, Herbert!«
    »Dann eben Zitronen.«
    »Sind ja auch Zitrusfrüchte, muss man nicht so genau nehmen.«
    »Also, der alte Schiller würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste …«
    »Goethe, Luise, das war Goethe!«
    Erneut schallendes Gelächter.
    Den ganzen Flug über hatte Sonja sich hinter einem Band mit Erzählungen von Elsa Morante verkrochen, den sie von Maris zum Geburtstag bekommen hatte. Sie verspürte das Bedürfnis abzutauchen und sich abzuschirmen: gegen Erinnerungen, die sie für immer eingemottet zu haben glaubte, gegen diese gnadenlosen Gedankenirrgärten, die sie seit einem guten Monat von innen aushöhlten. Nicht zuletzt auch gegen die Flut von Reisetipps, die ringsum lautstark ausgetauscht wurden: die Qualität der Thermalbäder auf Ischia, die Sauberkeit der Strände am Golf von Neapel, die Namen preiswerter Restaurants. Aber es war ihr schwer gefallen, sich zu konzentrieren. Gegen ihren Willen hatte sie immer wieder der einen oder anderen Anekdote gelauscht, die von ihren Landsleuten zum Besten gegeben wurde. Darin ging es um Triumphe beim Feilschen, um kleinere Diebstähle oder Betrügereien wie in der Geschichte der besonders günstig erworbenen Spiegelreflexkamera, die sich beim Auswickeln im Hotelzimmer als schnöder Ziegelstein entpuppte. Karambolagen mit dem Leben, bei denen nur leichte Blechschäden zu verzeichnen waren, die sich aber gerade deshalb vorzüglich dazu eigneten, abends bei einem Glas Wein auf der Hotelterrasse und nach dem Urlaub zu Hause ausgeschmückt zu werden: Man hatte etwas erlebt, konnte etwas erzählen und sich einreihen in den Reigen ähnlicher Geschichten, denn fast jeder war irgendwann in seinem Leben einmal beklaut oder betrogen worden.
    Sie erwartete nichts von dieser Stadt. Keine Geschichten, keine Karambolagen jedweder Art, bloß nicht! Sie wollte nicht in der Sonne sitzen, nicht den Vesuv besteigen, nicht nach Capri fahren. Sie hasste es, um Preise zu feilschen, und Pizza konnte sie ebensogut woanders essen.
    Das leere Transportband, das sich durch die Gepäckhalle wand wie die schuppige Haut eines ausgestorbenen Reptils, war noch immer nicht angesprungen. Vielleicht diente das ewige Warten auf das Gepäck als Maßnahme zur Akklimatisierung. Auf jeden Fall war es eine Prüfung in Sachen Geduld. Die ersten Beschwerden wurden laut. Zwei Urlauber steuerten auf einen uniformierten Flughafenbeamten zu.
    Sonja dachte, dass ihr Koffer vielleicht just in diesem Moment unter der sengenden Sonne des Südens von einer Gruppe Kleinkrimineller beiseite geschafft wurde.
    Es wäre nicht das erste Mal. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Rückflug von der Algarve mit Zwischenlandung in Madrid. Mit Tochter und Mutter hatte sie auf dem Hamburger Flughafen auf das Gepäck gewartet. Alle drei hatten sie wie gebannt auf die sich lichtende Schlange aus Koffern und Reisetaschen gestarrt, die vor ihnen auf dem Transportband vorbeizog. Luzie war damals fünf oder sechs gewesen und entsprechend zuversichtlich, Oma Hilde hatte wie immer wortreich die finstersten Aussichten beschworen, und Sonja stand dazwischen, innerlich auf hundertachtzig, nach außen die Ruhe selbst. Zum Schluss hatten nur noch zwei fremde Reisetaschen einsam ihre Runden gedreht – fehlgeleitetes Gepäck, auf das in irgendeinem anderen Flughafen
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