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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen
Autoren: Moritz Matthies
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Kapitel 1
    »Es ist Liebe«, sage ich.
    »Elsa?« Rufus bekommt Schnappatmung. »Biologisch gesehen ist das sexuell hybrid.«
    »Rufus. Kannst du nicht reden wie alle anderen Erdmännchen?«
    »Gut. Du bist pervers!«
    »Nein«, erwidere ich ungerührt. »Es ist Liebe.«
    »Unser alter Herr wird alles andere als begeistert sein, wenn er davon erfährt.«
    »Es ist Liebe, Rufus. Da gibt es kein ›wenn‹.«
    »Hast du mal einen Gedanken daran verschwendet, dass deine Auserwählte ungefähr doppelt so alt ist wie du – um mit den weniger bedeutenden Dingen anzufangen.«
    »Na und?«, antworte ich.
    »Außerdem habt ihr total verschiedene Interessen.«
    »Woher willst du das wissen? Du kennst sie doch gar nicht.«
    Rufus seufzt. »Sie ist ein Chinchilla, Ray, und du bist ein Erdmännchen, und …«
    »Erdmann. Wenn es um Elsa geht, bin ich ein Erdmann.«
    Wieder seufzt Rufus. Da macht ihm keiner was vor. Wenn er sich einen Job aussuchen dürfte, wäre es der von diesem bekloppten Italiener, der gegen Windmühlen gekämpft hat. Oder war es ein Franzose? »Meinetwegen ein Erdmann«, sagt er. »Jedenfalls mag sie die Berge, du lebst unter der Erde. Sie frisst kein Fleisch, du ernährst dich von nichts anderem. Außerdem ist sie nachtaktiv. Das heißt, ihr würdet euch praktisch nie zu Gesicht bekommen.«
    Endlich ein Einwand, den ich entkräften kann. »Das kann für eine Beziehung sehr von Vorteil sein«, sage ich. »Glaubst du, Kunze und Gerda wären noch zusammen, wenn er nicht dreiundzwanzig Stunden am Tag pennen würde? Und sag mir jetzt nicht, dass das alle Löwenmännchen so machen.«
    Rufus will etwas erwidern, zuckt jedoch zusammen. »Was war das?«, flüstert er, streckt sich im selben Moment und schnüffelt nervös in alle Himmelsrichtungen. »Hast du das auch gehört?«
    So geht das jedes verdammte Mal, wenn wir Wache schieben. Alle zwei Minuten ist mein schreckhafter Bruder der festen Überzeugung, dass wir in höchster Gefahr schweben.
    »Um Himmels willen«, sage ich tonlos. »Ein Savannenadler, direkt hinter dir. Lauf um dein Leben!«
    Rufus sieht mich eine Weile an, dann rümpft er die Nase. »Spar dir deine blöden Witze, Ray. Nur weil wir im Zoo leben, heißt das nicht, dass es hier ungefährlich ist.«
    »Rufus«, versuche ich es in versöhnlichem Ton, »wir sind beide hier geboren. Denk mal nach: Hat es in unserem Leben jemals einen einzigen Adlerangriff gegeben?«
    »Hier nicht«, erwidert Rufus, »aber ich habe gelesen, im Zoo von San Diego ist es …«
    »Du sollst nicht so viel lesen. Und schon gar keine Gruselgeschichten.«
    »Das stand in der Zeitung«, ereifert sich Rufus. »Außerdem ist es unerlässlich, dass wenigstens einer aus unserer Sippe sich darüber informiert, was im Rest der Welt vor sich geht.«
    Ich könnte mir jetzt Rufus’ Vortrag über die Bedeutung einer allgemeinen Schulbildung für Erdmännchen anhören. Will ich aber nicht. Rufus hat sich mit Hilfe eines internetfähigen Handys und der Zeitungen, die jeden Tag in dem Mülleimer an unserem Gehege landen, das Lesen beigebracht. Jetzt meint er, sein Wissen unbedingt weitergeben zu müssen. Nur interessiert sich leider niemand dafür.
    »Wir sind hier nicht in San Diego«, lenke ich ab.
    »Aber auch hier hat es schon einmal einen Adlerangriff gegeben. Pa kann sich noch gut erinnern …«
    »Romantisches Afrikagedöns«, unterbreche ich meinen Bruder. »Pa ist genau wie wir alle hier im Zoo geboren. Die ganzen Geschichten von Afrika hat er aus zweiter Hand, nämlich von seinem Vater – der sie wiederum von seinem Vater hatte. Und am Ende steht dann der sagenumwobene Chester, der angeblich noch mit seinen Rheumakrallen Puffottern erwürgt haben soll.«
    »Hör auf, dich über unseren Gründervater lustig zu machen. Pa hat hier im Zoo als junges Erdmännchen einen Adlerangriff beobachtet«, insistiert Rufus.
    »Das ist völliger Quatsch!«, entgegne ich. »Und das weißt du auch. Du kannst hier fragen, wen du willst. Alle sagen, der angebliche Adler war eine altersschwache Taube, die zufällig in unser Gehege gestürzt ist. Im Nachhinein hat Pa sich dann eingeredet, dass da ein Adler im Spiel war und dass der statt eines Erdmännchens die Taube erwischt hat.«
    Rufus hat mir gar nicht zugehört. Wieder spitzt er die Ohren, streckt sich und schnüffelt in alle Richtungen. »Hörst du? Da war es wieder!«
    Regungslos blickt er in Richtung des Flamingogeheges. Ich erhebe mich schleppend und folge seinem Blick. Da drüben ist
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