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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen
Autoren: Moritz Matthies
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auch gar nicht ausspannen oder so, Justus, ehrlich, ich respektiere eure Gefühle füreinander, es ist nur so, dass …«
    »Verpiss dich!«
    »Also, dass – ich kann nichts dafür, Justus. Der Hintern deiner Frau macht mich einfach …«
    »Verpiss dich, hab ich gesagt!«
    »Verzeih mir, Ursula, es ist einfach stärker als ich!«
    »Zum letzten Mal: VERPISS DICH !«
    Wenn ich Justus so weit habe, dass er, wie jetzt, vor- und zurückschaukelt und mit dem Vorderhuf das Erdreich verdichtet, dann kann ich eigentlich sagen, was ich will.
    Zum Beispiel: »Hast du zufällig gestern Abend Schüsse gehört?«
    Und schon lässt Justus alle Contenance fahren, stößt ein fürchterliches Gebrüll aus und rennt mit gesenktem Kopf auf mich zu. Das ist dann der Moment, in dem ich mich hinter die Absperrung zurückziehe und verfolge, wie er mit achtzig Sachen sein Horn in das Stahlgeländer rammt, wodurch sein Kopf nach hinten gerissen wird, er sich mindestens zwei Halswirbel und den Kiefer ausrenkt, in die Knie geht und Ursula aufs Theatralischste zu weinen anfängt. Warum ich das mache? Puh … ganz ehrlich: So genau weiß ich das auch nicht. Manchmal sitzt mir einfach ein kleiner Dämon im Nacken.
    »War das wirklich nötig?«, fragt Rufus.
    Typisch: Wenn ich, sein leiblicher Bruder, meterhoch durch die Luft geschleudert werde, dann interessiert Rufus anschließend nur, was für ein Gefühl das war. Wenn sich aber ein geistig minderbemitteltes Breitmaulnashorn an einer Eisenstange sein unnützes Horn eindellt, dann hat er plötzlich Mitleid. Ist das normal – mit einer fremden Art mehr Mitleid zu haben als mit seiner eigenen?
     
    Die Pinguine wachen erst auf, nachdem Rufus und ich sie minutenlang mit Kies beworfen haben. Apropos: Sollte sich vorhin jemand gefragt haben, weshalb Flamingos in der Natur nur den
vor
letzten Platz belegen, wenn es darum geht, eins und eins zusammenzuzählen – hier kommt die Antwort.
    »Ich muss den Chef sprechen!«, rufe ich über das Wasserbecken, nachdem ich sicher bin, im Besitz ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit zu sein.
    Keine Reaktion. Einige werfen sich Blicke zu.
    Zweiter Versuch: »Wer von euch ist der Chef?«
    »Max«, bekomme ich zur Antwort.
    »Ja, Max ist der Chef!«
    »Großartig«, antworte ich, »und wer von euch
ist
Max?«
    Diese einfache Frage reicht aus, um unter den Pinguinen eine nächtliche Massenpanik auszulösen. Ungefähr ein Drittel von ihnen stürzt sich blindlings ins Wasser, ein weiteres Drittel läuft kopflos umher und ruft: »Wer ist Max? Oh Gott, wer ist Max?« Das letzte Drittel teilt sich in eine Gruppe, die meine Frage nicht verstanden hat, und eine, die Restintelligenz vorzutäuschen versucht und das Problem diskutiert.
    »Bist du nicht Max?«
    »Nein, der bin ich
ganz
sicher nicht!«
    »Ach ja? Und wer bist du dann?«
    »Weiß ich nicht, aber auf keinen Fall Max! Bist du nicht Max?«
    »Ich? Du hast ja mal so was von überhaupt keine Ahnung!«
    Aus humanitären Gründen verzichte ich darauf, den Rest dieser Diskussion aufzuzeichnen. Am Ende bezichtigen sich drei von ihnen gegenseitig, Max zu sein, zwei versuchen, sich zu ertränken, zwei weitere liegen bewusstlos auf dem Sandsteinfelsen.
    Als ich nach den Schüssen frage, bekomme ich zur Antwort: »Also ich war’s nicht – bin doch nicht Max.«
    »Was? Max hat geschossen?«
    Nach fünf Minuten gebe ich es endgültig auf.
    »Und ihr fragt euch, weshalb ihr vom Aussterben bedroht seid!?«, schimpfe ich, und meine Stimme zittert zwischen den Steinen hin und her. »Null anpassungsfähig! Die Evolution ist voll Speed an euch vorbeigerauscht! Das hat noch jeder Spezies den Genickschuss verpasst. Nehmt euch mal ein Beispiel an den Krokodilen. Die gibt’s schon seit … Rufus?«
    » 230  Millionen Jahren.« Seine Antwort kommt ebenso beiläufig wie prompt. Ich hasse ihn dafür. Wahrscheinlich ist die Zahl frei erfunden, aber Rufus ist schlau genug, um zu wissen, dass niemand es besser weiß.
    » 230  Millionen Jahren!«, rufe ich. »Und warum?«
    »Weiß nicht«, antwortet ein im Wasser treibender Pinguin.
    »Was hab ich gerade über Anpassungsfähigkeit gesagt?«
    »Weiß nicht.«
    Die Streithähne auf dem Felsen unterbrechen kurzfristig ihren Disput: »Wir sind vom Aussterben bedroht?«
    Mit einem panischen Aufschrei stürzt sich alles ins Wasser, was nicht schon drin ist. Mit Ausnahme der beiden, die ohnmächtig sind. Mit Grausen wende ich mich ab. Mag sein, dass die Menschen echt voll fies und gemein
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