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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen
Autoren: Moritz Matthies
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Ruhe. Ich klettere auf Benjamins Rücken, taste mich bis zu Nicoles Rüssel vor und beiße vorsichtig hinein. Sie öffnet ein Auge, sieht etwas Fremdes auf ihrem Sohn sitzen, schreckt hoch und holt aus.
    »Ich bin’s, Ray«, sage ich und kreuze schützend die Vorderbeine vor dem Gesicht.
    Langsam lässt Nicole ihren Rüssel sinken.
    Inzwischen blinzelt auch Heiner aus verschlafenen Augen in meine Richtung. »Bist du auf einem Kamikaze-Trip?«
    »Tut mir echt leid, dass ich euch geweckt habe«, beeile ich mich zu sagen. »Ich weiß, ihr steht da nicht so drauf …«
    Heiner schnauft, tritt an mich heran, bis seine in der Dunkelheit schimmernden Stoßzähne mich einrahmen und ich seinen Atem rieche. Der Typ stinkt. Aber das sage ich ihm natürlich nicht.
    Stattdessen sage ich: »Du hast ganz schön viele Falten um die Augen. Bist du irgendwie traurig oder so?«
    Seine Stimme umfängt mich wie ein warmes Bad aus Magensäure. »Bist du irgendwie lebensmüde oder so?«
    »Beruhig dich, Heiner. War nur ’n Scherz. Deine Augen sind praktisch faltenfrei – abgesehen von …«
    Hoppla. Hab gar nicht gemerkt, wie sich sein Rüssel um meine schlanke Taille gewunden hat, wo er mir jetzt … Ufff. Wozu atmen? Ist völlig überbewertet. Ich verliere den Halt unter meinen Klauen, und dann schwebe ich sehr, sehr dicht vor Heiners riesigem Quadratschädel, und sein Atem riecht genauso schlecht wie zuvor. Ich muss nicht einmal atmen, um das zu wissen. Jetzt fällt mir auch ein, was ich über die Elefanten zu sagen vergessen hatte: Sie sind relativ humorbefreit.
    Mit dem letzten mir verbliebenen Zentiliter Luft erkläre ich Heiner, dass sein Gesicht glatt ist wie ein Pavianhintern – ehrlich, kein Witz! –, dass ich mich total für ihn und Nicole freue, weil sie doch jetzt Nachwuchs bekommen haben, wo sie es doch schon seit Jahren versuchen und es vorher nie … Au! Das tut jetzt wirklich ein bisschen weh, Heiner! Was ich eigentlich sagen wollte, war, ob du vielleicht gestern Abend Schüsse gehört … Weil, da wird jemand vermisst, und wir fragen uns, also mein Bruder und ich, ob du, ob ihr … Ziemlich genau an diesem Punkt treten mir die Augen aus dem Schädel, und ich sehe die Sterne des Universums gesammelt auf mich herabstürzen. Sieht ganz cool aus, irgendwie, nur, dass ich es gerade jetzt nicht wirklich genießen kann.
    »Zwei«, sagt Heiner. »Einer hat mich aufgeweckt, der andere hat mich daran gehindert, wieder einzuschlafen. So wie du gerade. War es das, was du wissen wolltest?«
    Ich würde gerne »Ja« sagen, und »Echt nett von dir, Heiner, danke«, kann aber nur noch stumm nicken.
    »Gut.«
    Mit diesem Wort werde ich aus dem Würgegriff seines Rüssels entlassen, steige in die Höhe, sehe das Gehege von oben, sehr weit oben – ist der kleine Krümel da unten im Sand mein Bruder? –, beschreibe einen perfekten Kreisbogen und bohre mich Kopf voran in die Hecke, die das Gehege vom Weg trennt.
    »Wie war’s?«, will Rufus wissen, als wir unterwegs zu den Nashörnern sind.
    »Nichts Neues«, antworte ich mit geschwollener Lippe und noch immer brennenden Augen.
    »Ich meine, so durch die Luft zu fliegen.«
    Ich bleibe kurz stehen und forsche in seinem Gesicht. Nix. Von Mitleid keine Spur: »Ach das«, sage ich mit gespielter Heiterkeit, »das war super.«
    Er nimmt die Antwort hin. Ironie? Nie gehört. Und das ist noch der Beste aus meinem Clan.
     
    Dass die Befragung der Nashörner nichts bringt, weiß ich vorher. Ursula und ich haben seit geraumer Zeit ein … nennen wir es: Kommunikationsproblem. Um ehrlich zu sein: Ich necke sie gerne ein bisschen. Das geht dann so: »Ey, Ursula! Wach mal auf!«
    »Oh Gott, jetzt kommt der schon nachts!«
    »Ursula: Ich weiß, das Denken liegt dir nicht. Aber das stört mich nicht, ehrlich. Dafür hast du ganz klar den knackigsten Hintern diesseits des Mississippi. Macht mich einfach total heiß. Kann ich nichts gegen machen. Komm, Baby, zeig mir deinen Hintern! Ach übrigens: Du hast nicht zufällig letzte Nacht Schüsse gehört?«
    »Justus!« Sie fängt an zu flennen und stößt ihrem Mann ihr Horn in die Seite.
    Justus’ Kopf schaukelt träge hin und her. »Was denn, Liebes?«, brummt er.
    »Er ist schon wieder da!«
    Schlagartig ist Justus hellwach und richtet seine vier Tonnen Lebendgewicht auf mich aus.
    »Hi, Justus, ich bin zufällig vorbeigekommen, und da dachte ich mir, weshalb nicht mal eben meiner Freundin Ursula ›hallo‹ sagen? Ich will sie dir ja
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