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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen
Autoren: Moritz Matthies
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aufsetzen lassen.
    »Guck mal«, sagt die Gelbmütze, »ein Erdmännchen-Spasti.«
    Gemeint ist Rufus, bei dem vor Aufregung gerade die ersten Synapsen durchschmoren.
    »Und der da sieht aus, als wär er voll auf Droge«, ergänzt Rotkäppchen.
    Die Gelbmütze deutet mit ausgestrecktem Finger auf Rocky. »Meinst du den da?«
    Rocky bläst sich auf. »Vorsicht, Freundchen«, murmelt er in Richtung der Jungen, »gleich ist deine Kappe weg.«
    »Hihihi«, kichert Roxane. Das macht sie immer, wenn ihr kein vollständiger Satz einfällt. Mit anderen Worten: ständig. Kein Wunder, dass Rocky so scharf auf sie ist. Ein Weibchen, das in ganzen Sätzen reden könnte, würde ihn komplett überfordern.
    Rotkäppchen stößt seinen Kumpel in die Seite und zeigt auf mich: »Nee, den da – der sich die ganze Zeit an den Eiern krault.«
    Gelbmütze greift sich demonstrativ zwischen die Beine, die beiden Jungs prusten los. Dann steht die Lehrerin hinter ihnen und schiebt sich ihre Brille den Nasenrücken hinauf: »Ben-Lukas, Jeremy-Pascal: Abmarsch!«
    Im Weggehen dreht sich Rotkäppchen noch einmal zu mir um, grinst dümmlich und greift sich in den Schritt.
    »Hihihi.« Roxane.
    Stimmt. Ich kraule mir tatsächlich die Eier. Übersprungshandlung. Auch ich bin nervös. Alle sind nervös – Ma, Pa, Rocky … Der halbe Clan hat sich auf dem Hügel versammelt.
    »Glaubst du echt, er kommt?«, raunt mir Rufus zu.
    Das fragt er mich jetzt schon zum vierten Mal. Ich höre auf, mir die Eier zu kraulen und kratze mir stattdessen die Nase. Hektisch suchen meine Augen den Horizont ab. Geht nicht anders. Ich hab es probiert – mal die gesamte Zeit zwischen zwei S-Bahnen nur auf einen Punkt zu starren. Unmöglich. Ich muss einfach ständig die Gegend scannen. Rufus hat mir erklärt, der Grund dafür sei eine Art genetische Dauerschleife. Geholfen hat das nichts. ’ne Sonnenbrille. Die würde helfen. Mit verspiegelten Gläsern am besten.
    »Hör endlich auf mit deiner dämlichen Hampelei«, antworte ich. »Er kommt, oder er kommt nicht.«
    Pa bekommt einen Hustenanfall, kann sich nicht länger auf den Hinterbeinen halten und stützt sich schwerfällig auf die Vorderpfoten. »Lebendessen …« Er träumt vor sich hin, als erinnere er sich an seine Jugend im Paradies zurück. Dabei kann er sich eine Welt ohne Zaun drum herum gar nicht vorstellen. Wenn ihm einer erzählte, dass er als Kind auf wilden Antilopen geritten sei, würde er sogar das glauben.
    So stehen wir auf dem Hügel und warten.
    Und warten.
    Und warten.
    »Kannste vergessen«, stellt Rocky fest. »Der kommt nicht mehr.«
    Befriedigt schlendert er den Hügel herunter und patrouilliert mit geschwellter Brust einmal vor dem Zaun auf und ab, damit auch jeder Zoobesucher weiß, wer hier der nächste Clanchef ist. Die Arme leicht abgewinkelt, als könnte er sie vor lauter Muskeln nicht am Körper anlegen, und im Gegensatz zu Pa immer schön elastisch in den Knien. Schließlich kommt er den Hügel wieder raufgefedert. Ich liege unverändert auf der Seite, einen Ellenbogen aufgestützt.
    »Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, Sergeant?«, frage ich.
    Er bleibt stehen, beugt sich zu mir herab und flüstert, so dass Pa es nicht hört: »An dem Tag, an dem ich die Nachfolge des … Also: Wenn ich hier der Chef bin, dann kannst du dir ’nen neuen Bau suchen.«
    Rufus, der mitgehört hat, flüstert von der anderen Seite: »Eingeschobener Nebensatz: Die Hürde ist zu hoch für ihn.«
    »Klappe«, zischt Rocky. Und damit keine Missverständnisse entstehen, an wen diese Order gerichtet ist, ergänzt er: »Beide.«
    »Jawoll, Sergeant!«, rufe ich und salutiere im Liegen.
    »Hihihi«, zwitschert Roxane.
    Ich zwinkere ihr zu, worauf sie kichernd die Klaue zum Maul führt. Rocky tut so, als bemerke er es nicht. Klappt natürlich nicht. Wann immer Rocky sich im Schauspielern versucht, ist er automatisch zum Scheitern verurteilt. Ganz gleich, ob er so tut, als sei er nicht eifersüchtig, oder ob er so tut, als würde etwas anderes als Ödnis den Raum zwischen seinen Ohren füllen. Er richtet sich zu voller Größe auf und streicht betont langsam über sein Fell, damit auch jeder sieht, was wir ohnehin alle wissen: dass niemand im Clan mehr Streifen auf dem Rücken hat als er.
    »Entschuldigung, Sergeant«, ergänze ich, »ich meinte natürlich: General.«
    Wenn er könnte, würde Rocky mir den Stinkefinger zeigen. »Vergesst es!«, verkündet er noch einmal, als habe er sich unten am Zaun
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