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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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Heiligabend-Bummler entgegen; Männer, Frauen und Jugendliche, die ebenfalls mal kurz durchs Brandenburger Tor gehen wollten, nur eben von der anderen Seite aus. Die Bescherung war vorüber, man verspürte Lust auf diesen ersten ungeteilten Weihnachtsspaziergang.
    Ein langhaariger, lustig grinsender Bursche hatte beide deutsche Flaggen – die mit Hammer und Sichel und die mit dem Bundesadler – an einen Besenstiel genagelt und schwenkte sie vergnügt durch den Abend. Eindeutig einer, der für die Wiedervereinigung war. Ihm wurde zugewinkt und Beifall geklatscht. Ein böse blickender Alter jedoch hätte ihm sein Demonstrationsobjekt am liebsten aus der Hand gerissen.
    »Wieso freuste dir denn so?«, blaffte er den Fahnenschwenker an. »Etwa weil de jetzt bald stempeln jehen darfst?«
    Einige der Vorübergehenden lachten, ein paar junge Leute buhten den Alten lauthals aus. »Miesmacher!«, tönten sie. »Bist wohl in der Partei? Jestempelt wird schon lange nicht mehr.«
    »Ick war nie in ’ner Partei«, wehrte sich der Alte, der Lenz an die Arbeiter erinnerte, mit denen er in seiner Jugend im Kabelwerk zusammengearbeitet hatte. »Bin bloß nich doof, hab im Westfernsehen nich nur Werbung jekiekt. Ick weeß, wat uff uns zukommt. Und ob det nun stempeln jehn heißt oder janz anders, deinem Portemonnaie is dit ejal.«
    Die jungen Leute berührte das nicht. Unkenrufe waren an diesem Abend nicht erwünscht. Johlend und lachend folgten sie dem Fahnen schwenkenden Wiedervereinigungsbefürworter in Richtung Brandenburger Tor.
    Lenz hätte sich gern mit dem Alten unterhalten – wo er arbeitete oder gearbeitet hatte und was er so dachte über Vergangenheit und Zukunft –, doch der kräftige Mann in der dicken Jacke und mit dem trotz des milden Wetters eng um den Hals geschlungenen Wollschal war bereits weitergegangen, noch immer kopfschüttelnd. Und dann wurden Hannah und er auch schon abgelenkt.
    Von der Ecke Glinkastraße tönten Rufe zu ihnen her. Mehrere OstBerliner Jungen in Bomberjacken hatten zwei türkisch aussehende Jugendliche eingekreist. »Wat wollt ihr denn hier?«, beschwerte sich einer der OstBerliner über die Anwesenheit der beiden Jungen aus dem Westteil der Stadt. »Haut ab! Zurück an den Bosporus, Allah den Arsch wischen.«
    »Wir sind ooch aus Berlin«, verteidigte der kleinere der beiden dunkeläugigen Jungen ihr Recht, Unter den Linden spazieren zu gehen. »Wir jehen hin, wohin wa wollen.«
    »Dit könnte euch so passen«, krähte der OstBerliner, ein blasser Kahlkopf mit Springerstiefeln an den Füßen. »Deutschland den Deutschen! Haste davon schon mal wat jehört? Verpisst euch, ihr Knoblauchfresser! Wir brauchen euch nicht mehr.«
    Er sagte es drohend, konnte aber seine Verwunderung über den Berliner Dialekt des jungen Türken nicht verbergen. Beleidigte es ihn, dass dieser »Kanake« nicht anders sprach als er?
    Mit besänftigend erhobenen Händen trat Lenz dazwischen. »Na, nu mal schön friedlich, Jungs!«, berlinerte auch er. »Jibt doch jar keenen Anlass für Streit. Freut euch lieber! So ’nen Heiligabend wie heute werdet ihr nicht oft erleben.«
    »Freu dir selber, du Penner, denn haste jenuch zu tun!« Der Kahlkopf war nicht gewillt, auf christliche Nächstenliebe umzusteigen. Erst recht nicht, wenn so ein übertoleranter Ausländer-Sympathisant sich einmischte. Da Lenz aber nur lachte, um ihm zu zeigen, dass er gedachte, das Ganze auch weiterhin nicht so ernst zu nehmen, ging er nach kurzem Zögern weiter. Das allerdings nicht, ohne voller Verachtung vor ihm auszuspucken. Seine genauso grimmig oder herausfordernd blickenden Kameraden folgten ihm.
    Sie hatten wohl noch nicht genug getrunken. Später am Abend, davon war Lenz überzeugt, würden sie ihre Aggressionen nicht mehr in den Griff kriegen.
    Aber auch die beiden jungen Türken waren von Lenz’ Eingreifen nicht begeistert. »Wir könn’ uns selber verteidijen«, warfen sie ihm vor, »brauchen keenen, der uns in Schutz nimmt. Mit den dämlichen Ossis werden wa leicht fertig.«
    »Na denn – viel Glück!« Der abgewiesene Schlichter tippte sich an seinen nicht vorhandenen Hut und ging weiter. Hannah, froh, dass sein Eingreifen so glimpflich abgelaufen war, hängte sich bei ihm ein.
    »Siehste«, sagte sie, »das sind auch zwei solcher Welten, die sich bisher noch nicht kannten. Jetzt prallen sie aufeinander wie zwei Planeten, die ihre feste Flugbahn haben und sich nicht ausweichen können.«
    Diesmal jedoch war es Lenz, der alles
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