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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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einen frisch herausgebrochenen, faustgroßen Brocken an.
    »Zwanzig Westmark, Meester! Aber nur, weil heute Weihnachten is.«
    Lenz winkte ab. »Trag mein Stück Mauer schon lange mit mir herum.«
    »Zeig’s mal!« Der Junge blickte skeptisch.
    Da tippte Lenz erst auf sein Herz und danach auf seinen Kopf.
    Das verstand der Junge nicht. Musste er auch nicht. Wenn er nur weiter so emsig an diesem unseligen Stück Geschichte herumklopfte, wenn er sich nur weiter auf so nützliche Weise ein Taschengeld verdiente.

Im Archiv
  Anstelle eines Nachworts
    »Gehn Sie doch bitte noch mal Ihre acht Schritte.«
    Lenz wanderte von der Zellentür bis zu den Glasziegelsteinen, hinter denen schemenhaft das Zellengitter zu erkennen war, und wieder zurück. Und wieder hin und wieder zurück. Die Kamera blieb an ihm dran, keine Bewegung entging ihr. Der schon fast kahlköpfige, im Nacken mit einem langen, blonden Pferdeschwanz geschmückte Kameramann hielt seine »Waffe« sehr niedrig, wollte für diese Sequenz nur die Beine im Bild haben – Lenz’ Beine, wie sie langsam auf und ab wanderten; ganz so, wie er ein Vierteljahrhundert zuvor in dieser Zelle auf und ab gewandert war, stets nur sehr kurze Schritte setzend, damit er wenigstens auf die Zahl acht kam. War der Häftling Lenz erregt oder wütend, wurden es nie mehr als fünf Schritte. Dem Schriftsteller Lenz, zum Interview gebeten, fiel es leicht, den Rhythmus beizubehalten.
    Nächste Einstellung: Lenz vor den Glasziegelsteinen, die kein Fenster ersetzten, weil sie blickundurchlässig waren, doch wenigstens etwas Tageslicht in die Zelle ließen.
    Jetzt umkreiste ihn die Kamera wie ein Schwarm Mücken. Alles Szenen zur Untermalung des Interviews, das die drei Männer vom Fernsehen bereits Stunden zuvor mit ihm aufgenommen hatten – an seinem Schreibtisch, vor seiner Bücherwand, beim Spaziergang mit Hannah durch den Steglitzer Stadtpark.
    Hinter den Glasziegelsteinen war es hell, die Sonne schien. Vorsichtig schielte er zur linken Wand hin. – Halb zwei, jetzt muss es halb zwei sein! Während der Wochen und Monate seiner Einzelhaft hatte er gelernt, die Uhrzeit nach dem Stand der Sonne zu berechnen. Konnte er das immer noch?
    Er wartete ab, bis er die Kamera für einige Sekunden im Rücken hatte, dann sah er auf seine Armbanduhr. Fünf Minuten nach halb zwei! Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit er sich diese Zelle warmgesessen, warmgelaufen und warmgeschlafen hatte, in viel zu großer, ihn zur lächerlichen Figur machenden Häftlingskleidung, Filzlatschen an den Füßen und ohne jede Uhr, deren Zifferblatt ihm hätte verraten können, wie die Zeit verging – oder besser: nicht verging –, und es klappte noch immer. Seine durch die Glasziegelsteine gefilterte Sonnenuhr, eingestellt auf September bis November, die Zeit, die er in jener Zelle verbracht hatte, bevor seine erste Einzelhaft beendet war, funktionierte noch. War das etwas, worauf er stolz sein durfte? Oder sollte ihn diese »Funktionstüchtigkeit« eher erschrecken?
    Er hatte damals viel Zeit gehabt, sich solche Knast-Überlebenshilfen zu schaffen. Die Stasi hatte die »Technik der psychologischen Einkreisung« angewandt und ihn mit langer Einzelhaft weichkochen wollen. Damit er endlich bereit war, auch ohne jeden Rechtsbeistand auszusagen. Keinen einzigen Besuch, keine Zeitung und keine Bücher hatten sie ihm gestattet; kein Gesicht außer das seines Vernehmers und die verbiesterten Mienen des Gefängnispersonals hatte er zu sehen bekommen. Auch war fast immer Stille um ihn, unterbrochen nur von den wenigen Geräuschen, die vom Flur her kamen, oder dem Läuten der Kirchenglocken, das ab und zu durch den schmalen Lüftungsspalt zwischen den Glasziegelsteinen in seine Zelle drang und ihn wehmütig stimmte.
    Er hatte versucht, sich durch unentwegte Zellen-Marathonläufe, Morgen-, Mittag- und Abendgymnastik und »Filmvorführungen« im Kopf von den Sorgen um Hannah und die Kinder abzulenken, und auf diese Weise mehrere Romane geschrieben, die er später nie zu Papier brachte. Es hatte alles nichts genutzt, und er begriff, dass er keine Chance hatte. Die Stasi hätte ihn ewig so schmoren lassen können. Außerdem schadete er mit seiner Verweigerungshaltung ja nicht nur sich selbst, sondern auch Hannah und den Kindern. Solange er nicht »kooperierte«, bewegte sich ja nichts. Und so hatte er denn nach drei Wochen, in denen die Tage dahintropften wie unendlich langsam fallender, unaufhörlicher, nieselgrauer
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