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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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erschüttert mit ansehen mussten, wie sie von ihnen fortgeführt wurde, kamen ins Kinderheim. Was Hannah und Lenz die geplante Flucht so sehr erleichtert hatte – es gab keine alten oder kranken Eltern, die sie nicht hätten im Stich lassen dürfen –, jetzt erwies es sich als Nachteil: Niemand, der Silke und Micha hätte nehmen können. Und die in Hannah schwach aufgeflackerte Hoffnung, die Stasi würde sie aus Rücksichtnahme auf die Kinder vorläufig noch auf freiem Fuß lassen, erfüllte sich nicht. Und eigentlich hatte sie dem Staat, den sie verlassen wollte, so viel Größe auch gar nicht zugetraut.
    Lenz hatte erst noch bulgarische Gefängnisse kennenlernen müssen – Zellen, die ihn an mittelalterliche Verliese erinnerten –, bevor drei Wochen später auch er die Heimreise antreten durfte: in einer Chartermaschine der Interflug , gemeinsam mit sechzig, siebzig anderen jungen Männern, die gehofft hatten, über Bulgarien leichter in den Westen entfliehen zu können als in ihrer mit Minen, Selbstschussanlagen, Mauern und Grenzwächtern abgesicherten Heimat. Bereits am Abend darauf saß dann auch er in jenem Stasi-Knast; ein graues, mit Mauern und Wachtürmen umgebenes Gefängnis inmitten eines in keinem Stadtplan eingezeichneten, perfekt abgesicherten Sperrbezirks, das er aber von außen gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Erst viele Jahre später, nach dem Untergang des Mauerstaates, sollte er es besichtigen dürfen. Am Abend seiner Einlieferung und an allen folgenden Tagen hatte er nur die kafkaeske Innenansicht dieses wahrhaft ausbruchssicheren Untersuchungsgefängnisses bestaunen dürfen.
    In einem garagenähnlichen Raum, geblendet von hellen Scheinwerfern, hatte er den blechbüchsenartigen Gefangenentransporter verlassen dürfen und war nach erfolgter Leibesvisitation – keine Körperöffnung, in die sie nicht hineingeschaut hätten – in seine erste Zelle, die 102, geführt worden. Eine Zelle, die nicht mal eine Fensteröffnung besaß; Glasziegelsteine waren von innen vor die Gitter gemauert. Ihn umgaben nichts als Wände; allein eine schmale Lüftungsklappe zwischen den Glasziegelsteinen sorgte für Frischluft. Und natürlich wusste auch er nicht, wo er sich befand. Eine Verunsicherungs- und Einschüchterungsmaßnahme der Stasi, dieses Verschweigen ihres Aufenthaltsortes.
    Monate der Einzelhaft folgten; ein Leben im Totenhaus. Hannah und er, weder durften sie einen Rechtsanwalt hinzuziehen noch Besuche empfangen oder Post. Auch sahen sie lange Zeit keinen einzigen Mitgefangenen. Eine ewig währende Stille umfing sie. Man verwahrte sie wie Gegenstände, die nichts zu beanspruchen hatten und keinerlei Rechte besaßen; sie waren dem Staat, der sie festhielt, total ausgeliefert. Kein Hahn hätte nach ihnen gekräht, wäre ihnen hier etwas geschehen.
    Die Gerichtsverhandlung – eine Farce! Das Urteil von der Stasi mitgeliefert: zwei Jahre, zehn Monate! Doch durften sie bereits nach einem halben Jahr Untersuchungshaft und weiteren sechs Monaten Strafvollzug in die Bundesrepublik ausreisen. Eine jener später so berühmten Freikaufsaktionen, die Anfang der Siebzigerjahre noch nicht an die große Glocke gehängt werden durften, um weitere Freikäufe nicht zu erschweren. Zwei von bis zum Untergang ihres ehemaligen Staates insgesamt vierunddreißigtausend Freigekauften waren sie. Die Kinder allerdings hatte man ihnen nicht mitgegeben.
    »Wir haben jetzt August«, hatte der Stasi-Major Lenz vorgerechnet, als er ihm den Antrag auf Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft zur gefälligen Unterschrift in die Hand drückte. »In zwei Monaten, also schon im Oktober, sind die Kinder bei Ihnen. Was hätten wir davon, sie länger als nötig hierzubehalten? Wir sind doch keine Kidnapper.«
    Das war im Stasi-Auslieferungsknast in Karl-Marx-Stadt gewesen, der Stadt, die nun wieder Chemnitz hieß und über die die halbe DDR, das Sächsisch verballhornend, sich so gern lustig gemacht hatte: die Stadt mit den drei O – Korl-Morx-Stodt. Was sie dort erlebten, war nicht lustig. Was blieb Hannah und ihm denn anderes übrig, als dem sich so freundlich-jovial gebenden, gut frisierten Breitschädel irgendwann zu glauben? Dass es Fälle von Zwangsadoptionen gegeben hatte und der Staat, den sie verlassen wollten, damit doch zum Kidnapper geworden war, hatten sie damals ja noch nicht gewusst. Und hätten sie den Antrag nicht unterschrieben und auf einer gemeinsamen Ausreise beharrt, wären sie stante pede in den Strafvollzug
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