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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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zurückgebracht worden. Und dann hätten sie Silke und Micha weitere zwei Jahre nicht zu sehen bekommen. Das aber war doch das Allerschlimmste an dem bitterbösen Albtraum, dem sie noch immer ausgesetzt waren: dass sie die Kinder nicht sehen durften! Dass es keinerlei Möglichkeit gab, sie zu trösten, ihnen ihre Liebe zu versichern und ihre Tat zu erklären. Die Vorwürfe, die sie sich machten, setzten ihnen mehr zu als all die Vernehmungstorturen und die monatelange Isolation in der Einzelhaft, die sie hinter sich hatten. Die Ohnmacht des Angeklagten in einem Staat, der ihnen keinerlei Rechte zubilligte, auch die kleinen und großen Schikanen im Strafvollzug, denen vor allem die politischen Häftlinge ausgesetzt waren – alles war leichter zu ertragen gewesen als diese unentwegten, selbstquälerischen Sorgen um das Wohlergehen der Kinder und die Schuldgefühle, die auf ihnen lasteten.
    Im August verhaftet, im August freigelassen, im August die Erlaubnis, die Kinder holen zu dürfen. Zwei Jahre Trennung lagen hinter ihnen, zwei Jahre nichts als Briefe aus dem Kinderheim, denen kindliche Malereien beigefügt waren: Für Mami! Für Papi! Erst hatte man ihnen die monatlichen Briefe in die Zelle gelegt, jetzt steckten sie im Briefkasten. Briefe voller Unverständnis und demzufolge auch voller geheimer Vorwürfe. Für die Kinder waren es ihre Eltern, die alles zu verantworten hatten.
    Ja, und nun? Nun durften sie Silke und Micha endlich holen, und er, Lenz, konnte nicht dabei sein. Musste für die Firma ins Ausland!
    Wie viele Ausreden hatte er erfunden, um die schon seit Langem geplante Reise immer wieder zu verschieben, nur um ja da zu sein, wenn die ersehnte Nachricht kam. Eine Woche zuvor hatte er die Gesprächstermine festzurren müssen; jede weitere Verzögerung hätte ihm den Job gekostet, der so schwer zu bekommen gewesen war.
    Tja, und wo musste er hin, der Exportkaufmann Lenz? – Nach Bukarest! Ausgerechnet nach Bukarest! Dort hatten sie auf ihrem langen Weg ans Schwarze Meer Station gemacht, Hannah, Silke, Micha und er. Einen ganzen Tag Aufenthalt hatten sie und voller Unruhe und mit nur schwer zu bewältigenden Abschiedsgefühlen im Herzen waren Hannah und er mit den Kindern durch die staubtrockene, schwülheiße Stadt gewandert. War ja nicht so leicht gewesen, mit einem Schlag alles aufzugeben. All die mühsam zusammengesparten Möbel in der ihnen endlich zugeteilten Neubauwohnung – die warfen sie nun einfach weg. Auch die heiß geliebte, im Lauf der Jahre immer größer gewordene Bibliothek – weg mit Schaden! Doch gab es kein Zurück. Sie hätten so nicht weiterleben können, wären sonst an ihren eigenen Idealen erstickt.
    Republikflüchtlinge? Nein, das waren sie nicht. Sie waren Vertriebene! Menschen, die ihre Gedanken laut aussprechen und vielleicht sogar aufschreiben und veröffentlichen wollten, waren nicht erwünscht in dem Teil Deutschlands, aus dem sie kamen. Kritische Geister mussten sich dort in Nischen zurückziehen, damit niemand sie hörte, wenn sie ihrem Herzen Luft machten. Langsam absterben oder endlich wirklich zu leben beginnen, so lautete die Frage, vor die sie, beide noch keine dreißig Jahre alt, sich gestellt sahen. Irgendeinen goldenen Mittelweg gab es nicht.
    So hatten sie sich denn eines Tages, als Fränze ihnen das Angebot machte, ihnen herauszuhelfen aus ihrem ungeliebten Staat, fürs Weggehen entschieden. Für ihn, Lenz, ein sehr schmerzhafter Entschluss, hing er doch an seiner in Kriegs- und Nachkriegszeiten so gebeutelten Heimatstadt.
    Einziger Trost: Es gab zwei Deutschland – und zwei Berlin! Und was sollten alle Bedenken? Wirklich leben konnten sie letzten Endes nur dort, wo man sie leben ließ .
    Bukarest! Staatschef Ceausescus, des selbst ernannten »Titan der Titanen«, ärmliche, trotz aller Sonne graue Kapitale. Und es war so heiß und trocken wie zwei Jahre zuvor.
    Lenz zog durch die Straßen, durch die Hannah, Silke, Micha und er damals gewandert waren, und all die Bilder tauchten wieder vor ihm auf, die ihn während der Haft so oft heimgesucht hatten: Silke und Micha, wie sie voller Vorfreude auf die Ferien am Schwarzen Meer all das Fremde, das sie zu sehen bekamen, in sich aufnahmen; Hannah und er, wie die Sorge um den hoffentlich reibungslosen Grenzübertritt in die Türkei ihnen zusetzte. Es war alles so gut vorbereitet und erschien alles so sicher; hätten sie ernsthafte Zweifel am Gelingen gehabt, sie hätten alle Fluchtabsichten sofort aufgegeben. Die
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