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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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Cuika-Schnaps, der ihm zur Begrüßung vorgesetzt wurde. Das Zeug riss ihm den Rachen auf, doch natürlich lächelte er und versuchte, sich gut gelaunt zu erkundigen, was er denn da eigentlich getrunken habe. War das Wort »Cuika« irgendwie zu übersetzen oder zu erklären?
    Leider sprach in dieser Familie niemand Deutsch oder Englisch. Nicht der bartstoppelige Vater, ein knotiger Mann mit Säuferaugen, nicht die verhärmt wirkende, schlecht frisierte Mutter, deren Hände unentwegt die karierte Tischdecke glatt strichen, nicht die dralle, weißblonde Tochter, deren Hintern an beiden Seiten mächtig über den Stuhl quoll, oder das so faltige und lederhäutige Großmütterchen, das direkt einem rumänischen Märchenbuch entsprungen zu sein schien. Ihm blieb nichts anderes übrig, als tapfer den zweiten Cuika zu schlucken, verlegen zu dem farbenprächtigen Druck eines stalinistischen Gemäldes hinzustarren – kühn blickende, blonde, russische Erntearbeiter, auf ihren Traktoren über ein wild wogendes, genauso blondes Weizenfeld ratternd, Haare im Wind, auf den Lippen ein zukunftsfrohes Lied – und weiter so verständnisvoll zu lächeln.
    Als er sich dann endlich verabschieden durfte – »Geschäfte! Verstehen Sie? Hab noch zu tun« –, kramte der Vater der Familie plötzlich doch noch zwei Wörter Deutsch heraus: »Hitler – gut!« Sagte es und strahlte vor Stolz über die gelungene Überraschung. Und als Lenz ihn daraufhin nur bestürzt ansah, tippte er sich auf die breite und – wie im Hemdausschnitt zu sehen war – grauschwarz behaarte Brust und fügte mit leuchtenden Augen hinzu: »Ich – Soldat!«
    Er hatte für die mit der deutschen Wehrmacht verbündeten rumänischen Streitkräfte gekämpft. Seine große Zeit, von der er noch immer träumte. Und nun glaubte er, Lenz, als Westdeutscher, werde das zu würdigen wissen? Oder hätte er dieses »Hitler – gut!« auch zu einem Besucher aus dem sozialistischen deutschen Staat gesagt?
    Wahrscheinlich nicht. In der DDR lebten ja nur Widerstandskämpfer. Kopfschüttelnd drückte Lenz dem Cuika-Vater die Hand. »Nein, Hitler nicht gut! Krieg nicht gut, Faschismus nicht gut!«
    Dann ging er.
    Was hätte er denn sonst sagen sollen? Der Mann hätte ihn ja gar nicht verstanden. Und das nicht allein aus sprachlichem Unvermögen, wie der verblüffte Blick bewies, mit dem er ihm nachsah.
    Endlich – der Rückflug! Nun bekam Lenz seine Ungeduld gar nicht mehr in den Griff. Froh darüber, dass seine »Kuriertätigkeit«, die ihm im Nachhinein doch ein wenig riskant erschien, so glimpflich verlaufen war, hatte er mehrfach versucht, Hannah anzurufen, doch keine Verbindung bekommen. So blieb ihm nur, still zu hoffen, dass mit den Kindern alles glattgegangen war und Hannah, Silke und Micha inzwischen wohlbehalten zu Hause eingetroffen waren.
    Doch je näher die Maschine dem Frankfurter Flughafen kam, desto unruhiger wurde er. Was konnte beim zweimaligen Grenzübertritt West-Ost, Ost-West nicht alles passiert sein! Vielleicht hatten die Ost-Behörden Hannah ja irgendwelche Schwierigkeiten gemacht … Weil ein Formular nicht richtig ausgefüllt oder ein Passfoto nicht aktuell genug war und was es sonst noch so alles für unüberwindliche Hürden geben mochte in einem Land, das sein eigenes Rechts- und Wertesystem hatte …
    Wie Fische in einem überfüllten Aquarium, so schwammen seine Gedanken um- und übereinander, von einer Sorge, einer schlimmen Vermutung zur nächsten. Dazwischen krampfhaft bemühte Hoffnungsbilder. Hin und wieder stießen sie aneinander, die grauen Sorgen- und die bunten Hoffnungsfische, verloren die Richtung, verschwanden im Schwarm und tauchten wieder auf, größer geworden, noch schriller, noch beunruhigender.
    Und dann musste die Maschine auch noch in die Warteschleife, das Taxi ließ sich alle Zeit der Welt und der Fahrstuhl wollte und wollte nicht kommen. Endlich aber – die Tür stand schon offen – kamen Silke und Micha ihm entgegengestürzt. Sie lachten und weinten, hielten sich aneinander fest und drückten sich. Die Größe des Augenblicks, Worte gab es dafür nicht.
    Zu Lenz’ Beruhigung war Hannah nicht allein nach OstBerlin gefahren. Die resolute, durch nichts so leicht zu erschütternde Fränze und Fränzes derzeitige Liebe, der gemütliche Ralf, hatten sie begleitet. In Fränzes knallrotem VW-Käfer hatten sie sich auf den Weg begeben. Nach Fränzes Farbenlehre stand Rot ja nicht allein für Linkssein und Liebe, sondern vor allem für
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