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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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ihn dieses kleinkarierte Schubladensystem irgendwann nicht mehr interessierte, weil er längst mitbekommen hatte, dass es in allen Bevölkerungsschichten kluge Leute gab und Hohlköpfe. Aber nun diese neuen, sich modern und wohlsituiert gebenden »Kleinbürger«. Was sollte er mit denen anfangen? Ihre östlichen Pendants waren eine unterdrückte Klasse, weil sie als rückschrittlich, ja reaktionär galten, es sei denn, sie zeigten sich bereit, ihr Fähnlein in den Wind der offiziell regierenden Arbeiterklasse zu hängen; und Unterdrückte waren ihm schon immer sympathisch gewesen. Ihre Opferrolle setzte sie ins Recht. Auch hatte die Kleinbürgerwelt, in der er aufgewachsen war, sich mit Witz und Kessheit gegen die ihnen zugewiesene Rolle der politisch Minderwertigen gewehrt. Echte Originale und anarchistische Nachkriegstypen hatte er unter ihnen gefunden. Jene »modernen«, westlichen Kleinbürger waren keine Opfer, sie waren Gewinner, Neureiche! Und zeigten das stolz.
    Gleich am zweiten Abend nach ihrer Entlassung aus dem Notaufnahmelager Gießen, in das die aus der Stasi-Haft freigekauften Häftlinge gekarrt worden waren, um alle notwendigen Aufnahmeformalitäten hinter sich zu bringen, fand in Fränzes neuer Welt eine Party statt; eine schon vor längerer Zeit, als noch niemand mit ihrer Freilassung rechnen konnte, geplante Sommerfete. Hannah und er hatten nicht mitgehen wollen, fühlten sich nicht in Stimmung nach diesem Jahr hinter Mauern und Gittern und in dem noch frischen Bewusstsein, dass die Trennung von Silke und Micha andauern würde. Fränze, hartnäckig, wie sie war, überredete sie, nicht in ihrem Kummerkasten zu versinken. Ablenkung tue not. Sie müssten ja nicht gleich die Clowns machen oder das Tanzbein schwingen. Auch sei eine solche Einstiegsparty nicht schlecht für sie; da wüssten sie doch gleich, wo sie hingeraten seien.
    Sie konnte sehr beredsam sein, die Frau Dr. Franziska Möller, und so gingen sie denn mit und fürchteten sich vor einem Abend voller Fragen über ihre Erlebnisse und vor dem unentwegten Betroffensein reihum über das Schicksal der Kinder. Und wussten bald nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollten. Niemand wollte irgendetwas wissen. Fränze stellte sie vor und verriet allen, woher sie kamen und was sie hinter sich hatten; man sagte: »Ah, ja?«, oder schüttelte verwundert den Kopf. Das war’s! Und darüber hätten sie froh sein müssen, doch war es nicht Taktgefühl, das sie verschonte – es war Abwehr. Man wollte tanzen, fröhlich sein, einen schönen Abend verleben; traurige Geschichten passten da nicht hinein.
    Sie saßen da, ihre Gläser in den Händen, beobachteten das fress- und alkoholselige Treiben und hatten zum ersten Mal das Gefühl, nicht nur den Staat gewechselt zu haben, sondern gleich den ganzen Kontinent.
    Alles Bunte war ein wenig zu bunt, alles Laute ein wenig zu laut. Gespräche fanden keine statt, obwohl viel geredet wurde. Ob Gruppensex erlaubt sei oder nicht, plätscherte es vor sich hin, Kochrezepte wurden ausgetauscht und über Mode wurde debattiert: Hotpants oder Minirock, das war hier die Frage! Möbel, Autos, Schlankheitskuren, Tüchtigkeit und Geldverdienen, auch das interessierte. Wer eine Reise gemacht hatte, berichtete stolz, wo man dort gut und besonders preisgünstig essen konnte.
    Gegen Mitternacht fand im Hauskeller ein Preisschießen statt. Mit einem Luftdruckgewehr. Lenz wollte sich nicht verweigern, schoss mit und schoss nicht schlecht. »Na ja, bei euch in der Volksarmee dienen eben auch Deutsche«, so der scherzhafte Kommentar eines der Gäste.
    Das Klischeebild vom selbstzufriedenen Bundesbürger, hier stimmte es. Der Schein bestimmt das Bewusstsein – der Geldschein und der Anschein, den du dir gibst. Kleidest du dich wie Direktor Huber und fährst ein Auto wie Direktor Huber, weshalb sollst du weniger wert sein als Direktor Huber?
    Sie hassten sie bald, diese bunten, nichtssagenden Partys, die ihnen als reine Zurschaustellung frisch erworbenen Wohlstands erschienen, doch konnten sie sich Fränze zuliebe nicht entziehen. Dankbar für all das, was sie für sie getan hatte und noch immer tat, wollten sie sich nicht ausschließen aus ihrem Leben. So spielten sie ihr Spiel mit: Bundesbürger beobachten. Diese so regsam-rührigen Darsteller ihrer selbst, mal sehen, was sie so alles draufhatten in ihrem Bemühen, clever und erfolgreich, locker und up to date zu sein. Bald aber entwickelten sie dieses Spiel weiter: Was, so
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