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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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Erster Teil
  Ein ehrliches Gesicht
1. Freudentänze
    D as Telegramm war zum denkbar unglücklichsten Zeitpunkt gekommen. Wochen-, ja monatelang hatte Lenz die Reise immer wieder verschoben, einen Tag nach Erhalt der Nachricht musste er sie antreten, wollte er nicht riskieren, noch innerhalb der Probezeit entlassen zu werden.
    Er musste nach Bukarest. Es gab keinen weiteren Verzögerungsgrund. Seine Chefs hätten sich gefragt: Was ist das denn für einer? Will er nicht oder kann er nicht? Einen Exportkaufmann, der nicht reist, können wir uns nicht leisten.
    Er musste fliegen, egal wie sehr es schmerzte. Ein ganzes Jahr lang, Tag für Tag, hatten Hannah und er auf die Aufforderung gewartet, endlich die Kinder holen zu dürfen – nun war es endlich gekommen, das Telegramm von Robert, Lenz’ älterem Bruder in OstBerlin, der den Kontakt zu den Kindern und den Ämtern hielt. Doch das Jugendamt hatte einen sehr knappen Termin genannt: Übermorgen! Denen, die in ihrem Staat nicht hatten glücklich werden wollen, noch mal einen Tritt vors Schienbein geben. Erst ein Jahr lang warten, bangen, zittern lassen, dann: Übermorgen!
    Hannah und er, wie oft hatten sie die paar Zeilen des Telegramms gelesen: Ausreise der Kinder bewilligt. Ihr dürft einreisen, um sie abzuholen. Vor Glück und Erleichterung hatten sie geheult. Dann das Datum: Übermorgen !
    Eine Bösartigkeit! Ein Staat, der sich an keinerlei humanitäre Regeln hielt! Sozialistische Bürokraten, die nur Feinde und Genossen kannten.
    Im Jahr zuvor, August 73, waren sie aus der DDR-Haft entlassen worden, Hannah und Manfred Lenz. Wiederum fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, im August 72, waren sie verhaftet worden. Eine Ferienreise ans Schwarze Meer hatte sie fortbringen sollen aus dem Staat, in dem sie nicht länger leben wollten. Und auch nicht länger leben konnten, wollten sie sich nicht selbst aufgeben. Mit westdeutschen Pässen, von Hannahs Schwester Fränze aus Frankfurt am Main über irgendwelche dunklen Kanäle besorgt, hatten sie von Bulgarien in die Türkei und von dort bis Frankfurt am Main weiterreisen wollen. Von Deutschland nach Deutschland durch halb Europa. Alles mit echten Pässen, in denen keine falschen Namen standen und in denen ihre eigenen, zuvor in den Westen geschmuggelten Fotos ihnen entgegenlächelten. Ihre DDR-Papiere hätten sie irgendwo am Schwarzmeerstrand entsorgt; ein einfacher Wechsel der Systeme, ohne Maskerade, ohne riskante Turnübungen, ohne jede Gefahr für Leib und Leben.
    So der Plan, doch war alles ganz anders gekommen: Fränze war schon bei der Einreise verhaftet worden. Die Stasi musste sie observiert und über alles Bescheid gewusst haben und der bulgarische Zwillingsbruder des ostdeutschen Überwachungsapparates hatte willig Amtshilfe geleistet. Bereits auf dem Bahnhof von Burgas, einem Hafen- und Touristenstädtchen am Schwarzen Meer, das sich ihnen nur durch den hohen Salzgehalt des feuchtwarmen Seewindes vorstellte, war Lenz verhaftet und Hannah – der Kinder wegen – mit Silke und Michael in ein Hotel geschafft worden. Nur zwei Tage später wurden die Kinder und sie – Silke neun Jahre alt, Micha sechs – von Sofia aus per Interflug nach OstBerlin zurückexpediert.
    Zwei Tage Bahnfahrt durch die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien lagen hinter ihnen; alles nur, um in einem dreistündigen Linienflug, mitten zwischen lauter braun gebrannten, fröhlichen Urlaubsrückkehrern, nach OstBerlin zurückgeschickt zu werden. Die Kinder verwirrt und voller Angst. Sie verstanden nicht, was da passiert war mit ihrem Vater und weshalb sie denn nun wieder zurückfliegen mussten, ohne überhaupt richtig Ferien gemacht zu haben. Hannah quälte die Frage, wie es jetzt wohl weitergehen würde mit den Kindern und ihrem in Bulgarien zurückgebliebenen Mann. Ihre hilflosen Versuche, die Kinder auf das vorzubereiten, was sie erwartete; Silke, die bei der Landung brechen musste; Micha, der noch nicht viel verstand, den aber eine unbestimmte Ahnung erfüllte, wie ihm deutlich anzusehen war.
    Die Frage, wie alles weitergehen würde, wurde dann schon im Schönefelder Flughafengebäude beantwortet. Hannah wurde in einen blickundurchlässigen Gefangenentransporter gesperrt und in eine der Untersuchungshaftanstalten der Stasi transportiert, von der sie noch nicht wusste, dass sie im OstBerliner Ortsteil Hohenschönhausen lag; die Kinder, die sich nicht von ihrer Mutter hatten trennen wollen und erschrocken, verwundert und
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