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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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fragten sie sich, wäre aus dem oder der wohl in der DDR geworden? Waren diese Westler denn wirklich ganz andere Menschen?
    Da, der dickliche, immer überaus farbenprächtig gekleidete Obst- und Gemüsehändler mit den trüben Augen, wäre aus dem nicht ein prima Gewerkschaftsonkel geworden?
    »Sehe ihn in der Kantine sitzen«, flüsterte Lenz. »Alle grüßt er freundlich, keinen sieht er wirklich, so sehr ruht er im Schmalz seiner eigenen Bedeutung.«
    »Ich weiß sogar, wofür er zuständig ist«, flüsterte Hannah zurück. »Er vergibt Ferienplätze an der Ostsee! Weshalb alle sehr, sehr nett zu ihm sind.«
    Oder der da, der ehemalige Feldwebel der Bundeswehr und jetzige Versicherungsvertreter, der so gern Rad schlug, um zu beweisen, dass er noch immer sehr sportlich war, ein pausbäckiger Metzgermeistertyp. In der DDR wäre er ganz sicher noch immer in militärischen Diensten und damit weiterhin eine bedeutende Persönlichkeit. Hier bemühte er sich, allen seinen Bekannten und deren Verwandten seine Versicherungen aufs Auge zu drücken. Deutlich zu sehen, wie er darunter litt, nicht mehr Krieg spielen zu dürfen. War sicher die schönste Zeit in seinem Leben, als er noch Rekruten schinden durfte.
    Na, und der da, der Geschniegelte und Gebügelte, der gerade so laut von der Kaufkraft der Deutschen Mark schwärmte. Im Osten wäre er Parteisekretär oder Medienmensch und hätte statt von unserer DM sicher genauso wichtigtuerisch von den Erfolgen unseres Arbeiter- und Bauernstaates getrötet: Unsere Werktätigen! Unsere Partei- und Staatsführung! Die Erfolge unserer Sportler!
    Ja, und die da, die kleine Brünette mit dem schrillbunten Wickelrock! Jeden kannte sie, an keinem – außer den Anwesenden – ließ sie ein gutes Haar. Wäre die nicht eine prima Besetzung für den Hauswartposten? Jeder Besuch, der über Nacht blieb, müsste sich in ihr Anmeldebuch eintragen; jeder im Haus wäre ihren Argusaugen ausgesetzt, über alle privaten Verhältnisse wüsste sie Bescheid. Wehe, wenn sich wer vor dem Subbotnik, dem freiwilligen Arbeitseinsatz am Samstagvormittag, drückte …
    Es machte Spaß, dieses Wechsel-die-Seiten-Spiel! Noch spannender aber fanden Lenz und Hannah es, den Spieß hin und wieder umzudrehen und sich zu fragen, was aus dem einen oder anderen DDR-Bekannten geworden wäre, wäre er hier aufgewachsen: Wie weit bestimmen die Verhältnisse die Persönlichkeit? Steckte in jedem kleinen Duckmäuser nicht auch ein großer Schaumschläger? Und in jedem großen Schaumschläger ein kleiner Duckmäuser? Gab es nicht überall nur wenige, die nicht alles fraßen, was man ihnen vorsetzte?
    Weder Lenz noch Hannah hatten geglaubt, in eine rosarote, alle glücklich machende Bundesrepublik zu kommen. Sie kannten den Westen. Hannah war in Frankfurt aufgewachsen und erst als Sechzehnjährige von ihrem Vater in die DDR mitgenommen worden und Lenz war bis zu seinem achtzehnten Geburtstag im Westen Berlins genauso zu Hause gewesen wie im Osten. Und auch später hatte die »andere Seite« sie immer sehr interessiert, und so wussten sie dank der politischen Magazine des Westfernsehens in vielen Dingen besser Bescheid als so mancher gestandene Bundesbürger. Erlebten sie Enttäuschungen, so hauptsächlich mit Menschen, auf die sie große Hoffnungen gesetzt hatten.
    Da war gleich zu Anfang die Geschichte mit Ete Kern. Ete Kern und Manne Lenz, im Kinder- und später im Jugendheim waren sie durch dick und dünn gegangen. Nur Etes frühe Flucht gleich nach dem Mauerbau hatte sie auseinanderbringen können. Jetzt genügten wenige, anfangs euphorische Briefe, um zu wissen, dass elf Jahre Trennung zu viel waren. Das berühmte »Sie hatten sich auseinandergelebt«, hier traf es zu, und zwar im Denken wie im Fühlen. Der eine war durch und durch Westler geworden, der andere fühlte sich keiner Seite so ganz zugehörig. Ernüchterung hier und da, und so schlief der Briefverkehr bald ein und ein geplantes Treffen kam nie zustande.
    Ein anderer von Lenz’ Jugendfreunden, Hans Gottlieb, inzwischen Journalist, interessierte sich vor allem für den »Fall Lenz«. Er witterte eine Geschichte, wollte über die Zustände in den DDR-Gefängnissen, die misslungene Flucht und die politischen Beweggründe, die dazu geführt hatten, schreiben. Nach ein paar Telefonaten herrschte auch zwischen ihnen Funkstille. Lenz war kein Kommunist und hatte nie einer werden wollen, doch hatte er die Beweggründe, die Menschen von dieser schönen, aber – wie
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