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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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fast alle ihre Freunde, von der Stasi befragt, sehr, sehr positiv über sie ausgesagt; wohl in der Hoffnung, ihnen damit zu nützen.
    Lange hatten sie vermutet, dass diese Fliege in Wahrheit eine Wanze war, die man in ihrer Wohnung installiert hatte. Fränze war ja zum Schluss sehr oft gekommen, vielleicht hatte die Stasi mal reinhören wollen, was sie so miteinander redeten, und war auf diese Weise von ihnen selbst informiert worden. Zu jener Zeit ahnten sie ja noch nicht, in welchem Ausmaß dieser Staat seine Bürger bespitzelte. Die Mitarbeiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, eine freundliche junge Frau, hatte das jedoch so gut wie ausgeschlossen. Wäre es so gewesen, sagte sie, hätte man das aus den Akten ersehen können. Viel wahrscheinlicher sei, dass »Fliege« nur der Deckname für eine westliche Quelle war. Die Westpässe mit ihren wahren Namen und ihren aktuellen Fotos hatten ja einen gewissen Weg nehmen müssen und im Westen hätten genügend von der Stasi geschickte »Kundschafter des Friedens« agiert.
    Lenz schilderte den Männern vom Fernsehen die Aktenlage, und sie machten nachdenkliche Gesichter: Was während der Zeit der Teilung alles möglich war! Was unterschied diese Story denn von einem Spionage-Thriller?
    Der Kameramann, der durch seine Frage jene Nachdenklichkeit verursacht hatte, wollte weg von der Vergangenheit. »Aber wenn Ihnen nach Ihrer Verhaftung jemand gesagt hätte, dass Sie irgendwann, viele Jahre später, in Ihrer Zelle stehen und von lauter Fernsehfritzen bedrängt werden würden, mal wieder traurig zu kucken«, fragte er breit lächelnd, »was hätten Sie dem wohl geantwortet?«
    Zu unvorstellbar dieser Gedanke. »Ich hätte ihn wohl nur gebeten, nicht solch blöde Witze zu reißen, sondern mir lieber schnell ein paar Zigaretten zuzustecken. Damals habe ich nämlich noch geraucht.«
    Lenz sagte es und grinste und die drei Männer blickten auf ihre Zigaretten und grinsten ebenfalls.
    Der graue, unscheinbare, ein wenig tiefer gelegene Eingang zum »U-Boot«, dem Kellergefängnis der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Erst hatten die russischen Sieger es verwaltet, dann hatte die Stasi es übernommen. Häftlinge hatten diese »Unterwelt« Hotel zur ewigen Lampe genannt, weil in den düsteren Zellen nicht mal des Nachts das Licht ausgeschaltet wurde.
    Bevor sie mit den Dreharbeiten begannen, hatte Lenz dem Fernsehteam jene Zellen kurz gezeigt. Sie sollten wissen, was es auf diesem Gelände noch alles für Sehenswürdigkeiten gab. Der Gefängnistrakt, in dem er festgehalten worden war, war ja erst in den Sechzigerjahren errichtet worden, zu einer Zeit, als man begann, vorzugsweise nicht mehr körperlich, sondern psychisch zu foltern. Ganz still waren sie da geworden, diese drei Männer. Ein solches Bunker-Gefängnis hatten sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Nichts als gruftartige, größtenteils fensterlose und damit tageslichtfreie Zellen. Darunter Wasserzellen – Zellen, in denen immer einige Zentimeter Wasser den Boden bedeckten – und eine Tropfzelle, in der dem Häftling mit in regelmäßigen Abständen auf ihn niederfallenden Wassertropfen, die mit der Zeit zu Keulenschlägen wurden, Geständnisse abgepresst werden sollten.
    Auch Kälte-, Hitze- und Dunkelzellen und jene nur fünfzig mal fünfzig Zentimeter große Stehzelle, die dazu diente, Gefangene zu bestrafen, die sich etwas »zuschulden« hatten kommen lassen, hatte er ihnen gezeigt und erzählt, dass die Gefangenen der Vierziger- und Fünfzigerjahre größtenteils nachts verhört worden waren, aber tagsüber nicht schlafen durften. Sodass sie irgendwann, vom völligen Schlafentzug zermürbt, jedes für sie erdachte Geständnis unterschrieben. – Zweifelnd hatten sie ihn angeschaut: Solche Methoden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Den Nazis hätten sie so etwas zugetraut, nicht aber den russischen Siegern des Zweiten Weltkrieges und erst recht nicht den DDR-Kommunisten.
    Der junge Redakteur, ein gebürtiger Leipziger, sah lange zu dem Eingang hin, der zu jener Gruselstätte hinunterführte. »Ehrlich«, flüsterte er, »davon hab ich nichts gewusst! Davon haben auch meine Eltern und Großeltern nichts gewusst. Davon haben neunundneunzig Prozent unserer Leute nichts gewusst.«
    Von diesem »U-Boot« hatte, bis auf jene, die es kennengelernt hatten, kaum jemand gewusst. Im Westen hatte man das Thema in den letzten Jahrzehnten wohl nicht mehr für aktuell gehalten, und hätte im Osten eines der Opfer den Mund
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