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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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nicht so negativ sehen wollte. »Na und?«, fragte er frohgemut. »Dann müssen sie eben fortan gemeinsam durchs Weltall reisen. Ob ihnen das nun passt oder nicht.«
    »Und wenn der Zusammenprall ’n handfester Crash wird, was dann?«
    »Warum denn? Muss ja nicht sein, manchmal siegt auch die Vernunft. Das sind doch nur so ’n paar Spinner, das darf man nicht überbewerten.«
    An der Ecke Friedrichstraße überholte sie ein karnevalsmäßig angezogenes Pärchen auf einem Tandem. Vorne er, hinten sie, winkten die beiden fröhlich nach allen Seiten.
    Hannah klatschte ihnen Beifall und winkte zurück. »Die sind richtig. So lasse ich mir diesen Abend gefallen.«
    Auch Lenz fühlte sich von diesem Anblick in eine heitere Stimmung versetzt. Was sollten alle Fragen und Zukunftsbefürchtungen! Ihnen war ein Geschenk gemacht worden! Heiligabend 72 hatten sie noch bei der Stasi eingesessen. Hätte ihnen damals jemand gesagt, dass sie siebzehn Jahre später von West nach Ost durch das offene Brandenburger Tor spazieren würden, hätten sie sich nur an die Stirn getippt. Fortan würden sie wieder in beiden Hälften der Stadt zu Hause sein und auch in das ihm von Kindheit an vertraute Umland, all die Brandenburger Wälder und Seen, würden sie fahren dürfen. Und alles ganz selbstverständlich. Der musste ein Holzklotz sein, der an einem solchen Abend keine Freude empfand.
    Vergnügt und unternehmungslustig zogen sie weiter – bis sie die Staatsoper erreicht hatten. Gleich neben der ersten Eingangstür klebte ein Zettel, ungelenke Handschrift auf weißem Papier: Rote raus! Ausländer raus! Deutschland einig Vaterland der Deutschen .
    Die gute Laune, weg war sie! Hatten diesen Wisch die Jungen in den Bomberjacken angebracht? Oder liefen hier noch mehr von diesen »aufrechten Deutschen« herum?
    Ihn fröstelte. So etwas Ähnliches hatte er gerade erst beschrieben, in dem Roman, der 1933 spielte. Da wurde sein Hauptheld, ein fünfzehnjähriger Junge, von einer Nazi-Clique gezwungen, nicht sehr viel anders lautende Parolen von sich zu geben.
    Hannah stieß ihm die Faust in die Seite. »Schon vergessen, was du eben erst gesagt hast? Das sind doch wirklich nur ’n paar Spinner. Die leben erst richtig auf, wenn sie allzu ernst genommen werden. Am besten straft man sie mit Missachtung.«
    »Ja, ja! Nur breiten sie sich, wenn sie nicht ernst genommen werden, immer weiter aus … «
    Es war wie so oft: Was er sagte, hätte auch Hannah sagen können – und umgekehrt! Sie wussten beide nicht, wie dieser Mischung aus Dummheit, Nichtwissen und Spaß an der Provokation beizukommen war. Wie sollte man denn jemanden für etwas gewinnen, das ihm vom Gefühl und Verstand her fremd war, wie jemanden »aufklären«, der sich nicht aufklären lassen wollte? – Ein schwieriger Auftrag, den die jetzige Generation da von der Geschichte übertragen bekommen hatte. Die Irrtümer, Fehler und Verbrechen der Generationen vor ihnen mussten aufgearbeitet werden – damit sich nichts wiederholte –, doch stießen sie dabei auf mehr Ablehnung als Interesse.
    Aber schafften sie das nicht, hatten sie versagt.
    Am Palast der Republik vorüber und durch das erst vor wenigen Jahren durch historisierende Neubauten frisch zum Leben erweckte Nikolaiviertel schlenderten sie zum Alexanderplatz. Dabei stießen sie immer wieder auf Gebäude, Straßen und Plätze, die in Lenz’ Romanen und Erzählungen eine Rolle spielten, und erinnerten sich gegenseitig an die betreffenden Szenen.
    Für Lenz lebten seine Helden. Beim Schreiben sah er sie jene Wege gehen, die er ihnen vorgezeichnet hatte, und sorgte sich um sie. Nur schade, dass sie ihn gar nicht kannten; er hätte gern gewusst, was sie von ihm hielten.
    Er sagte das und Hannah schmunzelte. »Sie hätten dich gemocht. Ganz sicher hätten sie dich gemocht.«
    »Du meinst, sie hätten mich mit deinen Augen gesehen?«
    »Nein!« Jetzt musste sie richtig laut lachen. »Sie hätten dich mit deinen Augen gesehen. Wie denn sonst?«
    Darüber musste dann auch er lachen, und das so laut und albern, dass man sich nach ihnen umdrehte. Noch immer lachend, kehrten sie um, spazierten auf der anderen Straßenseite die Linden zurück und passierten kurz vor Mitternacht die Grenzkontrolle.
    Hinter dem Brandenburger Tor blieben sie noch ein Weilchen stehen, um Hand in Hand den Mauerspechten bei der Arbeit zuzusehen.
    Einer von ihnen, ein vierzehn-, fünfzehnjähriger Junge mit grauem Staubgesicht, bemerkte ihre gute Laune und bot Lenz
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