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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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T-Shirt, der für die Tonaufnahmen zuständig war und den anfangs besonders die Fensterlosigkeit dieses Raumes schockiert hatte, nutzte die Gelegenheit, sich mit seiner Zigarette in den Flur zu verdrücken. Er hatte jetzt nichts zu tun und offensichtlich gefiel es ihm nicht sehr in diesem »Menschenverwahrraum«.
    »Zu dunkel.« Der Kameramann war nicht zufrieden. Ein bisschen Sonne im Gesicht, so überlegte er laut, wäre besser. Lenz solle sich doch bitte an die linke Wand stellen und nach rechts zu den Glasziegeln schauen.
    Sonne im Gesicht! Und das ihm, der gerade wieder so tief in den Hohenschönhausener Schatten eingetaucht war. Lenz musste grinsen. Irgendwie nicht sehr realistisch, das Ganze.
    »Aber Sie dürfen doch jetzt nicht grinsen!« Entsetzt schüttelte er den Kopf, der junge Redakteur, der hier die Regieanweisungen gab. »Passt doch nicht zur Schwere des Augenblicks. Das Publikum erwartet an einem solchen Ort Betroffenheit, vielleicht sogar Tränen.«
    In Lenz stieg Ärger auf. »Bin kein Schauspieler. Kann und will nicht auf Bestellung heulen. Hab auch damals nie … «
    Doch! Einmal hatte er geheult. Das war, als er endlich Leseerlaubnis bekommen hatte und ihm die nach nur wenigen Wochen wieder entzogen worden war. Er hatte die Frechheit besessen, in den Büchern bestimmte Wörter und Sätze, in denen es um Menschenrechte und Freiheit ging, genussvoll zu unterstreichen. Mit dem Fingernagel, etwas anderes hatte er ja nicht. Man bemerkte es und verweigerte ihm fortan die wöchentlich zwei, drei Bücher. Und da hatte er, der sich an das sorgenverdrängende Lesen schon gewöhnt hatte, ein paar Minuten lang geglaubt, die nächsten Wochen nicht durchstehen zu können. Er hatte die Stirn an die Wand geschlagen und die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Dann aber, und das war sein Glück, war auf einmal eine so eiskalte Ruhe über ihn gekommen, dass er über sich selbst staunte. – Nein! Auf so billige Weise bekamen sie ihn nicht klein, den Gefallen würde er ihnen nicht tun. Und er war richtig ein wenig stolz auf diese Stärke gewesen, die da auf einmal in ihm war, wusste er doch nun, dass er in der Lage war, mehr auszuhalten, als er sich zuvor zugetraut hätte.
    »Aber Sie sollen ja gar nicht heulen«, beschwichtigte ihn der Redakteur. »Soll nur nicht alles so locker wirken. Das Publikum soll nicht glauben, eine solche Wiederkehr an den Ort des Schreckens ginge nicht unter die Haut. Denken Sie einfach nur daran, wie Sie sich damals gefühlt haben, dann machen Sie ganz automatisch das richtige Gesicht.«
    Was glaubte der denn, was er hier die ganze Zeit über tat? Doch bitte schön, wenn das hochverehrte Publikum es so wollte, machte er eben das »automatisch richtige Gesicht« – ernst, jedoch ohne sich irgendetwas dabei zu denken. Sonst funktionierte das nicht.
    Die Kamera surrte, in der Zelle war es still.
    »Na bitte! War doch allererste Sahne!« Redakteur und Kameramann nickten sich zufrieden zu. »Damit haben wir auch das im Kasten.«
    Die Kabel wurden aufgerollt und die Geräte eingepackt und zufrieden mit sich und der geleisteten Arbeit verließen das Fernsehteam und der ehemalige Häftling die Zelle 102.
    Der Hof zwischen den Gebäudekomplexen war noch immer sonnenüberflutet. Der Kameramann atmete tief durch und sah Lenz, der durch die plötzliche Helligkeit wie geblendet war und blinzeln musste, einen Moment lang zögernd an. »Wie ist Ihre Flucht denn eigentlich aufgeflogen?«, fragte er dann. »Ich meine, falls Sie darüber reden wollen.«
    Warum sollte er nicht darüber reden? Nur leider, Lenz wusste es nicht. Natürlich hatten Hannah und er, sobald es möglich war, Akteneinsicht in ihre Stasi-Unterlagen beantragt. Was sie da zu sehen bekommen hatten, war zwar viel – kein Knopf war ihnen abgesprungen, ohne dass irgendein eifriger Stasi-Mann darüber Bericht erstattet hatte –, aber was sie wirklich interessiert hatte, nämlich wie ihre Flucht aufgeflogen war, war nicht daraus zu entnehmen gewesen. Ein IM mit dem Decknamen »Fliege« hatte sie denunziert, doch wer diese Scheißhausfliege war und woher sie von ihrer geplanten Flucht wusste? Die zuständige Mitarbeiterin der Stasi-Unterlagenbehörde hatte ihnen darüber keine Auskunft geben können, in der Klarnamen-Datei war dieser IM nicht erfasst. Nur eines stand fest: Jemand aus ihrem persönlichen Umfeld konnte es nicht gewesen sein. Sie hatten keinem davon erzählt, weil sie niemandem Schwierigkeiten machen wollten. Auch hatten
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