Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
Vom Netzwerk:
1
    Ich sehe den Wassertropfen zu, wie sie von meinen Haarspitzen perlen. Sie rinnen am Handtuch entlang und bilden eine Pfütze auf dem Sofakissen. Mein Herz klopft so laut, dass es in meinen Ohren dröhnt.
    »Schätzchen. Hör mal.«
    Mom spricht Ingrids Namen aus, und ich beginne zu summen, keine Melodie von einem Lied, sondern nur einen langgezogenen Ton. Ich weiß, dass ich dadurch wie gestört wirke, und ich weiß auch, dass es nichts ändert, aber es ist besser als heulen, es ist besser als schreien, es ist besser, als sich anzuhören, was sie mir sagen wollen.
    Irgendwas zertrümmert meine Brust – ein Anker, etwas Schweres. Demnächst werde ich einfach einstürzen.
    Ich stolpere nach oben und zerre mir die alte Jeans und das Tanktop von gestern über. Dann bin ich draußen auf der Straße, um die Ecke zur Bushaltestelle. Dad ruft meinen Namen, aber ich antworte nicht. Stattdessen springe ich in den Bus, als sich die Türen gerade schließen. Ich suche mir hinten einen Platz und fahre einfach weg, durch Los Cerros und durch die nächste Stadt, bis ich in einer unbekannten Straße aussteige. Ich setze mich auf die Bank bei der Bushaltestelle und versuche, langsamer zu atmen.
    Das Licht hier ist anders, blauer. Eine lächelnde Mutter mit einem Kinderwagen schwebt an mir vorbei. Ein Zweig bewegt sich im Wind. Ich versuche, mich so leicht wie Luft zu machen.
    Aber meine Hände sind unruhig, sie müssen sich bewegen, also pule ich an einem Splitter in der Bank herum und breche mir einen Fingernagel ab. Jetzt ist er noch kürzer als vorher, aber ein kleines Stück Holz reißt ab. Es fällt in meine geöffnete Hand, und ich versuche, noch einen Splitter abzubrechen.
    Während der ganzen vergangenen Nacht habe ich meiner Stimme zugehört, wie sie in Endlosschleife biologische Fakten abspulte. Das Band läuft auch jetzt wieder in meinem Kopf, ein Katastrophen-Soundtrack, und übertönt alles andere.
    Wenn ein braunäugiger Mann und eine braunäugige Frau ein Kind bekommen, hat es wahrscheinlich braune Augen. Aber wenn beide Elternteile ein Gen für blaue Augen haben, dann kann ihr Kind auch blaue Augen haben.
    Ein alter Mann in einer Strickjacke setzt sich neben mich. Meine Hand ist nun halbvoll mit Holzsplittern. Ich merke, dass er mich beobachtet, aber ich kann nicht aufhören. Ich möchte fragen:
Warum starren Sie mich an? Es ist heiß, es ist Juni, und Sie haben eine Jacke mit Weihnachtssternmuster an.
    »Brauchst du Hilfe?«, fragt der alte Mann. Sein Bart ist flaumig und weiß.
    Ohne aufzusehen, schüttele ich den Kopf.
    Nein.
    Er holt ein Mobiltelefon aus der Tasche. »Soll ich dir mein Handy leihen?«
    Mein Herz setzt einen Schlag lang aus, und ich muss husten.
    »Soll ich deine Eltern anrufen?«
    Ingrid ist blond. Sie hat blaue Augen, und das bedeutet, dass ihr Vater trotz seiner braunen Augen ein rezessives Blaue-Augen-Gen hat.
    Ein Bus kommt. Der alte Mann steht auf, er ist unschlüssig.
    »Ach, armes Kind«, sagt er.
    Er hebt die Hand, als wollte er mir auf die Schulter klopfen, aber dann lässt er es bleiben.
    Meine linke Hand ist jetzt voll, und die ersten Holzsplitter fallen auf die Erde.
    Ich bin ein Mensch, gleich werde ich ins Nichts explodieren.
    Der alte Mann entfernt sich, steigt in den Bus, und dann ist er fort.
    Autos fahren an mir vorbei. Ein verschwommener Farbfleck nach dem anderen. Manchmal halten sie bei der Ampel oder am Zebrastreifen, aber irgendwann sind sie immer weg. Ich werde wohl für immer hier bleiben und an der Bank herumpulen, bis sie als Splitterhaufen auf dem Gehsteig liegt. Einfach vergessen, wie es sich anfühlt, wenn man jemanden gernhat.
    Ein Bus kommt, aber ich mache ein Zeichen, dass ich nicht einsteigen will, und er hält nicht an. Ein paar Minuten später schauen mich zwei kleine Mädchen durch das Rückfenster eines Autos an – eines ist blond, eines dunkelhaarig. Sie haben bunte Spangen im Haar. Es könnte sein, dass sie Schwestern sind. Sie drehen die Köpfe, um mich genauer zu betrachten. Sie glotzen. Als die Ampel auf Grün schaltet, strecken sie ihre Händchen durch das offene Dach und winken so heftig und schnell, dass es aussieht, als würden Schmetterlinge aus ihren Handgelenken blühen.
    Einige Zeit später hält mein Vater neben mir. Er beugt sich über den Beifahrersitz und stößt die Tür auf. Der Geruch nach Leder. Dünne, kühle, klimatisierte Luft. Ich steige ein und lasse mich von ihm nach Hause fahren.

2
    Ich verschlafe den nächsten Tag. Wenn ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher