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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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aufgemacht, wäre es sofort erneut in die Fänge der Staatssicherheit geraten. Der berühmte Satz »Davon hab ich nichts gewusst«, nach dem Untergang von Diktaturen immer wieder zu hören, war in diesem Fall kaum anzuzweifeln. Deshalb, so Lenz, war es gut, dass dieses »U-Boot« endlich »aufgetaucht« und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen war. Oder gehörten solche Nachkriegs-Folterkeller etwa nicht zur deutschen Geschichte?
    Stimmen wurden laut, eine Schulklasse kam aus dem »U-Boot«. West- oder ostdeutsche Jugendliche?
    Es war nicht mehr zu erkennen. Nicht an der Kleidung, nicht an den Sprüchen. Einige der Jugendlichen sahen bedrückt aus, andere alberten herum, wie stets bei solchen Führungen. Aber vielleicht war dieses Lachen ja eine Art Selbstschutz; der beste Weg, mit all dem Grausamen, das sie zu sehen bekommen hatten, fertig zu werden.
    Lenz beobachtete, wie die Jungen und Mädchen, geführt von einem ehemaligen Häftling, den Zellentrakt betraten, den das Fernsehteam und er gerade erst verlassen hatten, und wusste, dass sie gleich in seiner ehemaligen Zelle stehen würden. Die Frage des Kameramannes: »Wenn Ihnen damals jemand gesagt hätte … « Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, dass eines Tages eine ganze Schulklasse in seiner Zelle stehen und die kahlen Wände, die Glasziegelsteine und die graue Zellentür mit Futterklappe und Spion anschauen und vielleicht im Nachhinein Mitleid mit ihm und allen seinen Mithäftlingen empfinden würde, was hätte er dem wohl geantwortet?
    Aber nein, auch das hätte er sich nicht vorstellen können.
    Die Männer vom Fernsehen fuhren ihn noch nach Hause. Als Hannah seinen Schlüssel in der Tür hörte, kam sie ihm entgegen.
    »Na, wie war’s?«
    Er überlegte, was er antworten sollte. Dann sagte er nur: »Mal wieder ziemlich schlimm.«
    Ihm fiel kein anderes Wort ein. Einem so vielköpfigen Drachen gegenüberzutreten, der seinen Opfern mal furchtbar zugesetzt hatte, auch wenn er inzwischen gefesselt und hilflos am Boden lag, war keine leichte Sache. Zwar konnte das Ungeheuer niemanden mehr in seine Gewalt bringen, doch blickte es die, die mal unter ihm gelitten hatten, noch immer an, war noch nicht tot. Und grinste es nicht höhnisch? »Dich hab ich mal ganz klein gesehen. Ich weiß, dass du kein Held bist. Pass nur auf, dass ich nicht wieder freikomme.«
    Hannah nahm ihn in die Arme. »Na, solche Filmaufnahmen wirst du ja nie wieder überstehen müssen. Brauchen sie zukünftig derartige Bilder, sollen sie sich die aus’m Archiv holen.«
    Das war gut! Der Häftling Manfred Lenz, von nun an lagerte er im Archiv; wer ihn besichtigen wollte, konnte ihn herausholen. Er selber aber wollte ihm zukünftig nicht allzu oft über den Weg laufen. Die Vergangenheit durfte doch die Gegenwart nicht auffressen.

Klaus Kordon
     

    © Wonge Bergmann
     
    Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zum Teil internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg. Bei Beltz & Gelberg erschienen zahlreiche Bücher von Klaus Kordon, darunter der autobiographische Roman Krokodil im Nacken , die »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling , die »Jacobi-Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Die Geschichte von David und Anna. Seine Biographie über Erich Kästner, Die Zeit ist kaputt, wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
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