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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman
Autoren: Klaus Kordon
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sich später erwies – äußerst weltfremden und unrealistischen Utopie hatten träumen lassen, immer verstanden. Sollte er da jetzt den Kalten Krieger spielen? Es war nicht erlaubt, die Welt in Schwarz und Weiß einzuteilen. Von keiner Seite.
    Eine dritte Enttäuschung erlebte er, als er einen nordhessischen Bekannten anrief. Er hatte ihn auf der Leipziger Messe kennengelernt, sie hatten sich sympathisch gefunden. Beide lasen sie gern, beide waren sie junge Familienväter, beide waren sie an deutsch-deutschen Annäherungen interessiert. Wie viele Abende hatten sie in Leipziger Kneipen durchdiskutiert! Lenz wollte nur mal kurz hallo sagen, bin jetzt hier, vielleicht sieht man sich mal. Am anderen Ende der Leitung erst große Überraschung, danach ein laues Willkommen und eine sehr ungenaue Verabredung. Die Angst, er erwarte, dass etwas für ihn getan würde, Lenz spürte sie deutlich. Noch am gleichen Abend strich er die Adresse aus seinem Notizbuch.
    Waren »Westler« also doch ganz andere Menschen, war es schwer, unter ihnen Freunde zu finden?
    Blieben die ehemaligen Mithäftlinge, die etwa zur gleichen Zeit oder nur wenig später in den Westen verkauft worden waren. Wie war es mit denen?
    Es gab Besuche und Weißt-du-noch-Gespräche, Freundschaften wurden daraus nicht. In der Haft war man froh gewesen, nicht mit schwerkriminellen, sondern politischen Häftlingen in einer Zelle zu liegen; man schloss sich zusammen, um gemeinsam die Haftzeit zu überstehen. Differenzen im Denken und Fühlen wurden unterdrückt. Das war jetzt anders. Gegensätzliche Meinungen prallten aufeinander, nicht wenige waren aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem realexistierenden Sozialismus für Lenz’ Geschmack viel zu weit nach rechts abgedriftet.
    Ein besonders markantes Beispiel dafür war Heinz Heiland, den Lenz aus dem Kinderheim kannte.
    Heilands Eltern, linientreue Kommunisten aus dem Hessischen, hatten ihren Sohn einst in das OstBerliner Kinderheim gegeben. Schweren Herzens hatten sie sich von ihm getrennt, damit der wegen der politischen Einstellung seiner Eltern in der Schule heftig angefeindete Junge zusammen mit weiteren sechshundert Kindern und Jugendlichen zum jungen Sozialisten erzogen werden konnte. Lenz hatte ihn später aus den Augen verloren, nur durch Hörensagen wusste er, dass Heiland, ein mittelmäßiger Schüler, im Anschluss an die Mittlere Reife aufs Lehrerbildungsinstitut gegangen, also Lehrer geworden war. Wo traf er ihn wieder? – Im Notaufnahmelager Gießen! Verblüfft sprach er den ebenfalls frisch aus der DDR-Haft Entlassenen an und erfuhr so, was die gute Absicht von Heilands Eltern für böse Folgen gehabt hatte: Einen militanten Rechtsaußen hatten die realsozialistischen Parteikader aus dem früher so lustigen Hessen mit den dicken Hamsterbäckchen gemacht, einen, der seine Gewaltfantasien ausleben wollte und hoffte, dass er das in seiner wahren Heimat besser konnte. Weil es dort mehr politische Freiheit gab, wie er sagte, wenn auch für seinesgleichen noch längst nicht genug.
    Andere Ehemalige dachten gemütlicher, wollten den Westen erst mal »genießen« und vor allem ihre persönliche Freiheit nach Herzenslust auskosten. Unter Hinweis auf ihre Haftzeit ließen sie sich krankschreiben und rannten von Behörde zu Behörde, um überall ein paar Mark Unterstützung zu ergattern. Wieder andere trampten durch Europa oder flogen ins gelobte Land Indien, um sich ganz neuen Einsichten und Religionen zu öffnen.
    Alles nicht Hannah und Manfred Lenz’ Welt. Der Eindruck verstärkte sich, dass sie ihre wahren Freunde in der DDR zurückgelassen hatten; Leute, die nicht aus Überzeugung geblieben waren, sondern weil es da die alte Mutter gab oder den kranken Vater, die man nicht allein lassen durfte. Oder Geschwister und Freunde, die man nicht allein lassen wollte. Kam ja keiner von ihnen aus dem Westen und wollte in seine so viel freiere Heimat zurück – wie Hannah. Auch wollte keiner von ihnen schreiben und lief Gefahr, für sein Geschreibsel verhaftet oder, indem er den Staat bediente, wie er bedient werden wollte, zum Heuchler zu werden – wie Lenz.
    Nein, keine schöne Zeit, diese ersten Monate in der neuen Welt. Nicht für Lenz, den keinerlei Heimatgefühle mit diesem grünen und hügeligen, doch zu seinem Leidwesen seearmen Landstrich zwischen Frankfurt am Main und Limburg an der Lahn verbanden, und nicht für Hannah, die Heimgekehrte. War ja nicht allein das Warten auf die Kinder, das ihr zusetzte,
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