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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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    Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und am Himmel, wo die Vögel ihren Tag mit einiger Verspätung begonnen hatten, herrschte lärmendes Leben. Die Fischadler forderten laut ihr Mittagessen ein, und die Frau überlegte, ob die Fische sie wohl hörten.
    Ein Fischadler klatschte seinen Fang ins Gras. Der Fisch zappelte unter den Fängen des Vogels, über die silbernen Schuppen rann wässriges Blut. Der Fischadler riss gierig das Fleisch von den Gräten und achtete nicht auf die Frau, die jetzt näher trat, wohlwollend den Vogel und seine blutige, noch lebende Mahlzeit betrachtete und den guten Fang mit einem anerkennenden Nicken würdigte.
    Für Augusta stand fest, dass sie, sollte sie einmal wieder geboren werden, als gefiedertes Wesen auf die Erde zurückkehren würde. Sie hatte die Skrupellosigkeit eines schönen Raubvogels, und der liebe Gott würde dafür sorgen, dass so ein Talent nicht verloren ging.
    Ein Windstoß vom Fluss her wehte ihr das verschossene grüne Baumwollkleid um die nackten Beine und das lange Haar über die Schultern. Von unten aus der Stadt konnte man nicht sehen, wie schön die kornblumenblauen Augen waren, aber jedem Bürger von Dayborn war die hoch gewachsene, schlanke Frauengestalt bekannt, die jetzt auf dem schräg abfallenden Deich des mächtigen Mississippi entlangging.
    Der Himmel war kurz aufgerissen, und das Haar leuchtete in reinem Weiß, das die wenigen darin verbliebenen schwarzen Strähnen überstrahlte. Sie zuckte ein wenig, als die Schleimbeutelentzündung in der linken Schulter sich wieder bemerkbar machte, und verlagerte das Gewicht der schweren Einkaufstüte auf die Hüfte, während sie die lehmige, mit struppigem Bermudagras bewachsene Böschung hinabstieg.
    Unten angekommen, ging sie langsam auf ihr Haus zu, das sich hinter den fernen Bäumen verbarg. Ein dunkles Fenster, rund wie ein Auge, lugte durch das dichte Laubwerk, während sie einen schmalen unbefestigten Weg einschlug.
    Das Herrenhaus mit den siebenundvierzig Zimmern stand jetzt fast hundertfünfzig Jahre. Ihr wäre es am liebsten gewesen, wenn es wieder zu Staub zerfallen wäre – je früher, desto besser –, und sie hatte deshalb in dem halben Jahrhundert seit dem Tod ihres Vaters nichts reparieren lassen. Die siebzigjährige Miss Augusta Trebec, die alte Jungfer von Dayborn, lebte als Gefangene in ihrem eigenen Haus.
    Sie blieb vor dem Cottage von Henry Roth stehen, einem kleinen eingeschossigen Backsteinbau mit schönem Schieferdach. Der Garten war ein exotisches Blütenmeer in leuchtenden Grundfarben. Seit jeher hatte sie ein begehrliches Auge auf dieses Haus geworfen, weil es so schlicht in der Form und so handlich in der Größe war. Wäre es in ihrem Besitz gewesen, hätte sie den Garten natürlicher gehalten und Wildblumen den Vorzug gegeben. Als Künstler aber konnte Henry nicht anders – er musste die Natur veredeln. So machte er es auch mit den Steinblöcken, die er mit seinem Meißel bearbeitete, um schöne und sehr naturferne Dinge daraus zu machen.
    Vor Henrys Tür stand ein Fremder, und in der Auffahrt war ein silberfarbener Wagen geparkt. Normalerweise konnte Augusta eine Automarke nicht von der anderen unterscheiden, aber der Mercedes-Stern war nun doch unverkennbar. Büsche verdeckten das Nummernschild, sodass sie nicht sehen konnte, woher der Mann und sein Fahrzeug kamen.
    Henrys Besucher war groß, weit über eins achtzig, und nach dem, was man von hinten sehen konnte, ein stattlicher Mann. Als er sich von der Tür abwandte, hatte sie Gelegenheit, sein Profil zu bestaunen. Die Nase war eine echte Sehenswürdigkeit, in ihrer Größe und Länge wirkte sie bedrohlich wie eine Waffe.
    Der Mann drehte sich zu ihr um. Die Iris in den großen Augen mit den schweren Lidern war erstaunlich klein. Sie musste an einen Märchenfrosch denken, der die Verwandlung in einen Prinzen durch den Kuss einer schönen Jungfrau nicht ganz geschafft hat. Vielleicht war es nicht die richtige Art von Kuss gewesen – oder nicht die richtige Jungfrau.
    Augusta ging den Plattenweg hinauf. Das Nicken des Besuchers war so höflich und respektvoll, dass es fast einer Verbeugung gleichkam, und das gefiel ihr.
    Er war nicht mehr jung, aber durch das ziemlich lange braune Haar zogen sich keine grauen Strähnen, sodass sie sein Alter nicht schätzen konnte. Vielleicht war er gerade in jener schwierigen Phase, in der man noch nicht von »Mittelalter« sprechen konnte. Sie war jetzt nah genug herangekommen, um den Stoff
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