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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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wuchernden Efeu ausweichen, der sich vom Hof aus bis hierher vorgearbeitet hatte und seine frischen Triebe in Richtung Haustür reckte. Er glaubte ihn förmlich wachsen zu hören. Um das Haus herum blühten Herbstblumen in verschwenderischer Fülle. Ihr Duft vermischte sich mit dem des Zichorienkaffees, der ihm von seiner Tasse her in die Nase stieg.
    »Ich warte auf eine Verwandte«, erläuterte Augusta und ging dabei zum anderen Ende der Veranda. »Ihre Eltern haben mich heute früh angerufen und mir gesagt, dass sie herkommt. Ihr Vater dürfte ihr eingeschärft haben, dass sie mir einen Höflichkeitsbesuch abzustatten hat, noch bevor sie zu Abend isst.«
    Augusta nahm in einem hochlehnigen Korbsessel Platz, der von all den Sitzgelegenheiten auf der Veranda noch am stabilsten aussah. Charles setzte sich ebenfalls und ließ seinen Blick über die weite, mit hohem Gras bewachsene Ebene schweifen. Jetzt begriff er, warum die Korbmöbel sich alle hier in dieser Ecke der Veranda drängten, und jetzt glaubte er auch an Augustas Dreimeterhügel. Laut Reiseführer war der Deich an diesem Flussabschnitt an die zehn Meter hoch. Nur der erhöhten Lage von Augustas Grundstück und dem Backsteinfundament ihres Hauses war es zu verdanken, dass man diesen herrlichen Panoramablick über den Deich hatte.
    Möwen stiegen kreischend über dem breit dahinfließenden Mississippi auf und stießen dann wieder aufs Wasser nieder. Ein stolzer Raddampfer arbeitete sich auf seinem Weg nach New Orleans schäumend durch das bräunliche Wasser. Charles konnte die dreistöckigen Aufbauten deutlich erkennen, und einen wundersamen Augenblick lang schien es, als glitte das Schiff auf der Deichkrone dahin. Er folgte ihm mit dem Blick, bis ihn eine Gestalt ablenkte, die auf dem Deich entlanglief.
    Zunächst sah er vor dem hellen Licht, das vom Wasser reflektiert wurde, nur eine schmale, dunkle Silhouette mit langen Fohlenbeinen. Sie bewegte sich die steile Böschung nach unten und verlor sich hinter den Bäumen an Henry Roths Cottage.
    »Das muss Lilith Beaudare sein, die Tochter meines Vetters«, sagte Augusta.
    Jetzt sah er den Schatten der Läuferin über den Friedhof sprinten und dann hinter dem Kreis der Bäume verschwinden.
    Erstaunlich schnell tauchte sie am Ende der Eichenallee zu seiner Rechten wieder auf. Sie joggte gemächlich den unbefestigten Weg zum Haus hinauf. Charles erkannte jetzt auch Farben: das rote T-Shirt, die lila Shorts – und die schwarze Haut.
    Er wandte sich der blassen Frau zu, die neben ihm saß.
    Sie lächelte wie über einen guten Witz. »Die Welt hat sich geändert, Charles, man muss sich echt anstrengen, um mitzukommen.«
    Sie lachte, und das Lachen gefiel ihm, auch wenn es auf seine Kosten ging.
    »Mein Vetter, Guy Beaudare, ist mit seiner Familie nach New Orleans gezogen, als Lilith noch klein war. Früher haben sie mich noch jedes Jahr einmal besucht, aber dann hörte auch das auf, und ich habe das Mädel seit Jahren nicht mehr gesehen. Und jetzt taucht sie ausgerechnet in dem Moment in Dayborn auf, als Ihre Freundin verhaftet wird.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und sagte in warnendem Tonfall: »Das sollte auch Ihnen zu denken geben.«
    Locker und selbstsicher kam die junge Frau auf sie zu. Charles sah, dass sie professionelle Laufschuhe trug. Augusta lächelte ihm zu – ihre Besucherin war noch außer Hörweite – und sagte leise: »Wenn Sie meinen, dass Lilith dunkle Haut hat, müssten Sie mal ihre Mutter sehen. Die ist blauschwarz! Reinstes Afrika.«
    Als sie miteinander bekannt gemacht wurden, glaubte Charles in Lilith Beaudares Augen afrikanische Sonnen zu sehen, die ihn anstrahlten, als sie den Blick hob. Sie hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar und pflaumenfarbene Lippen. Das ganze Mädchen war eine faszinierende Mischung aus Farbe und Form. Sie wirkte ein bisschen größer als ihre ältere Cousine, und er schätzte sie – wie Mallory – auf etwa eins fünfundsiebzig.
    Lilith küsste Augusta auf beide Wangen, dann nahm sie seine Hand und hielt sie für sein Empfinden ein wenig zu lange fest. Sie lächelte, aber ihre Augen blieben ernst.
    »Lilith ist an Sheriff Jessop ausgeliehen«, sagte Augusta. »Ich habe Ihnen ja erzählt, dass sein Stellvertreter im Krankenhaus liegt.«
    Wieder hörte Charles aus ihren Worten eine Warnung heraus. Nach den ersten sechs unverblümten Fragen Liliths aber hätte er ohnehin gewusst, welchen Beruf sie ausübte. Ihre Art, ein Gespräch zu fuhren, hätte manch
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