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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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regelmäßig gegen ihn beim Pokern gewannen. Sein Gesicht war wie ein offenes Buch, das seine geheimsten Regungen verriet. Offenbar hatte sie gemerkt, dass er stutzte, und war seinem Blick vom Herrenhaus zu den Baumstämmen gefolgt.
    »Die Eichenallee wurde demnach für ein anderes Haus gepflanzt?«
    Sie nickte. »Von einem Baumnarren. Da hinten gibt es vierzehn verschiedene Baumarten.« Sie deutete über die Schulter auf die Wälder, die sich vom Friedhof aus östlich und westlich der Eichenallee erstreckten.
    »Das erste Haus fiel einer Überschwemmung zum Opfer, und mein Haus steht auf dem, was davon übrig geblieben ist.«
    Er lächelte. »Daher der Dreimeterhügel?«
    »Sehr richtig, Mr. Butler. Aber mein Haus hat offenbar keine baulichen Schwächen, es ist schwerer zu zerstören.« Das klang, als betrachte sie es als eine Herausforderung.
    Wenn er in westlicher Richtung durch die Lücken zwischen den dicken Bäumen sah, erkannte er eine offene begrünte Fläche, die sich bis zum Deich erstreckte. Sein Blick folgte einem Vogel, der sich vom Wind tragen ließ. Überall waren Vögel, die sangen oder auch kreischten. Alles war in Bewegung. Lange Vorhänge aus Spanischem Moos wehten in den Zweigen der Eichen, und Schatten liebende Farne wiegten sich in dem leichten Wind. Blühende Sträucher nickten ihm zu, und stolze Blumen verbeugten sich tief vor ihm.
    Am Ende der Allee hatte er den ersten ungehinderten Blick auf Trebec House. Das Erdgeschoss war aus grauem Backstein mit tief eingesetzten Fenstern und einer kleinen Tür, darüber erhob sich ein mächtiger Bau, der einem griechischen Tempel ähnelte. Er zählte acht schlanke weiße Säulen, die sich vor zwei Reihen von Fenstern erhoben. Die verschnörkelten Kapitelle stützten das wuchtige Dreieck eines steilen Dachs mit einem runden Dachfenster.
    Dichte Schlingpflanzen überwucherten die Backsteinmauer und wanden sich um eine Säule, als wollten sie den Schaft aus seiner Verankerung reißen. Doch das war eine optische Täuschung. Der Bau war bei aller Eleganz so stabil, dass ihm die Kräfte der Natur nichts anhaben konnten.
    Zierliche Treppchen – eins rechts, eins links – führten zu einer schweren geschnitzten Tür.
    »Das sind Liebesleutetreppen«, sagte Augusta. »Zu Lebzeiten meines Großvaters ging eine junge Dame nie vor einem Herrn die Treppe hinauf – zum Schutz des Herrn, wohlgemerkt. Ein Blick auf die Fesseln einer Frau, und er war so gut wie verlobt. Deshalb stiegen sie getrennt die Treppe hoch und trafen sich erst oben an der Haustür.«
    Das Haus war noch in seinem verfallenen Zustand so schön wie die Frau, die neben ihm ging. Die Fassade war einst weiß und glatt gewesen, jetzt aber von Regen und Sonne und dem Alter stark verwittert.
    Er musste sich ein wenig bücken, um ihr durch die kleine Holztür zu folgen, die zwischen den Treppen in die Backsteinfront eingelassen war. Sie gingen durch einen düsteren Korridor, der sich unerwartet zu einem großen, hellen Raum weitete.
    »Diese Küche gibt es erst seit 1883«, erläuterte sie. »Ursprünglich war sie in einem getrennten Anbau, da, wo jetzt die Koppel ist.« Sie deutete auf ein hohes Fenster, das den Rahmen für einen Schimmel inmitten eines eingezäunten Feldes bildete.
    Charles liebte Küchen, und diese war ein sonnendurchflutetes Wunder. Von Verfall war hier nichts zu sehen, der Raum war gepflegt und enthielt alles, was der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts zu brauchen meint – Mikrowelle und Geschirrspüler, Kaffeemaschine und Kaffeemühle. Glänzende Kupfertöpfe und Pfannen hingen an der Einfassung eines steinernen Kamins, der geräumig genug war, um darin einen Ochsen am Spieß zu braten.
    Auf einem großen Tisch lag ein rot-weiß kariertes Tischtuch, darauf ein aufgeschlagenes Skizzenbuch mit einer recht gelungenen Zeichnung einer weißen Eule und Druckfahnen mit roter Korrektur.
    Augusta war seinem Blick gefolgt. »Ich schreibe Abhandlungen über die Vögel dieser Gegend.«
    Als er die Tüte mit den Lebensmitteln auf einer stabilen Holzplatte absetzte, hörte er es vernehmlich fauchen. Vom Kühlschrank her sah ihn aus schmalen Augen eine große gelbe Katze an.
    »Setzen Sie sich.« Miss Trebec schob Charles sanft in Richtung Tisch.
    Die Katze verfolgte jede seiner Bewegungen, und er fixierte sie, während er mit Augusta sprach. »Dieser Mann, den Mallory ermordet haben soll …«
    »Babe Laurie?« Sie stellte die Dosen mit dem Orangensaft ins Gefrierfach. Um den Kühlschrank
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