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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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hinten einem Engel mit ausgebreiteten Flügeln näherten. »Aber es ist keine Tote drin.«
    Der Sheriff hatte die Leiche nicht gefunden.
    Die junge Frau war nicht in geweihtem Boden beerdigt worden, aber sie war zweifelsfrei tot. Das Blut, das sie verloren hatte, war in den Erzählungen der Bewohner von Dayborn zu einem breiten Strom angeschwollen. Und auch ein Kind war verschwunden, auf Nimmerwiedersehen, wie es so schön hieß.
    Sie gingen um das Standbild herum, und Augusta deutete auf das Gesicht des Engels. »Wirklich sehr ähnlich. Ist das Ihre Bekannte?«
    Sie sah zu dem Fremden auf. In seinem Gesicht kämpften Schmerz und Erleichterung, als er das Todesjahr las, das siebzehn Jahre zurücklag.
     
    Und doch – es war unleugbar Mallorys Gesicht.
    Charles Butler betrachtete die feinen Züge, die ein wenig schräg stehenden Augen, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Die Flügel waren so meisterlich gestaltet, dass man das beunruhigende Gefühl hatte, das steinerne Gebilde könne sich jeden Augenblick in die Lüfte erheben. In den Armen hielt die Engelsgestalt ein Kind, das wie eine kleinere Version ihrer selbst aussah.
    Jemand zupfte ihn am Ärmel. Er sah der alten Dame in die leidenschaftslosen blauen Augen. »Ist das die Bekannte, die Sie suchen?«
    »Nein. Meine Bekannte muss ein kleines Mädchen gewesen sein, als diese Frau starb.«
    Die alte Dame deutete auf das steinerne Kind in den Armen des Engels. »Das ist die Tochter von Cass. Die Kleine ist weggelaufen oder entführt worden – das wissen wir nicht genau.«
    Das steinerne Kind mochte sechs oder sieben Jahre alt sein. Das Alter stimmte. Ja, das Kind war Mallory, das stand für ihn jetzt fest. Nach all den Monaten der Suche hatte er nun durch Zufall den Anfang des Weges gefunden und nicht das Ende. »Sie haben keine Vorstellung davon, was aus dem kleinen Mädchen geworden ist?«
    »Nein. Was sie in den siebzehn Jahren zwischen ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr in die Stadt erlebt hat, ist für uns alle ein Rätsel.«
    »Sie ist zurückgekommen?«
    »Vor drei Tagen.«
    »Und sie lebt?«
    »Aber ja. Gesund und munter, wie man hört.«
    Erst jetzt, beim Blick in diese schlauen Augen, begriff er, was für ein grausames Spiel sie mit ihm getrieben hatte. Stumm und vorwurfsvoll sah er sie an, aber ihr listiges Lächeln signalisierte keine Reue.
    »Mag sein, dass es ein böser Streich war«, sagte sie. »Aber eine alte Frau braucht eben auch mal ihren Spaß.« Aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen.
    Sie war mindestens dreißig Jahre älter als er, aber er war nicht völlig immun gegen das, was noch an Schönheit an ihr war. In seiner Phantasie drehte er die Uhr zurück, glättete ihre Runzeln, färbte das lange, bis zur Taille reichende graue Haar wieder schwarz – und staunte über das Bild, das sich ihm bot.
    Die Frau deutete auf das Dach und das runde Fenster. Mehr war jenseits der Bäume, die den Friedhof umgaben, nicht zu sehen. »Das ist mein Haus, da oben auf dem Hügel.«
    »Hügel?« In seinen Fahrten am Westufer des Mississippi hatte er noch kein einziges Hügelchen, ja nicht einmal eine leichte Erhebung in der Landschaft von Louisiana entdeckt.
    »Laut Protokoll des Landvermessers steht mein Haus drei Meter über dem Meeresspiegel«, sagte sie ein wenig angriffslustig. »Hier herum ist das schon fast ein Berg.«
    Sie hakte sich bei ihm ein, und sie verließen den Friedhof und gingen auf den so genannten Hügel zu. »Wissen Sie, wo meine Bekannte sich zur Zeit aufhält?«
    »Aber ja. Die ganze Stadt weiß, wo sie sich aufhält. Ich habe gehört, dass sie sich Mallory nennt, aber ich weiß nicht, ob das ihr Vor- oder ihr Nachname ist.«
    »Ihr Vorname ist Kathy, aber sie hört nur auf Mallory.« Er warf noch einen Blick zurück auf den Engel und das Kind. So hatte denn Mallory schließlich doch heimgefunden.
    »Jetzt ist alles klar«, sagte die alte Dame triumphierend. »Kathy – so hieß die Tochter von Cass Shelley. Aber Sheriff Jessop kennt Ihre Bekannte nur unter dem Namen Mallory. Den hat er in dem Deckel einer alten Taschenuhr entdeckt, die sie bei sich hatte. Wenn Sie mit dem Sheriff sprechen, lassen Sie ihn dabei.«
    »Warum?« Und was hatte ein Sheriff mit Mallory zu schaffen?
    »Geben Sie ihm keine Hilfestellung, er ist ihr nicht freundlich gesonnen. Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Ein Hiesiger wurde ermordet aufgefunden, und kurz darauf hat man Ihre Bekannte verhaftet.«
    Charles blieb wie angewurzelt stehen und
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