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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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suchen habe, wenn Besuch da sei. Es war nicht sicher, ob die Katze diese Mitteilung verstanden hatte. Jedenfalls sprang sie vom Tisch, als sei das allein ihre Entscheidung. Mit hochgestelltem Schwanz und völlig lautlos landete sie auf dem Boden. Charles hätte am liebsten unter den Tisch gesehen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht dort unten lauerte und darauf wartete, ihn bei einem weiteren Verstoß gegen die Anstandsregeln zu ertappen. Stattdessen rührte er in seiner Tasse herum. Als er aufsah, um seiner Gastgeberin eine Frage zu stellen, saß die Katze auf Miss Trebecs Schulter.
    »Haben Sie sich schon überlegt, was für eine Geschichte Sie dem Sheriff auftischen wollen?«
    Er schüttelte den Kopf. Geschichten zu erfinden war nicht seine Stärke. Wenn er hin und wieder unter Mallorys schlechtem Einfluss versucht hatte zu schwindeln, hatte das noch immer zu einer Katastrophe geführt. »Könnten Sie Mallory eine Nachricht zukommen lassen? Ihr sagen, dass ich hier bin und ihr gern helfen möchte?«
    »Ich bin da die denkbar ungeeignetste Person«, erwiderte sie. »Tom Jessop und ich stehen seit Jahren auf Kriegsfuß. Er würde mich nicht eine Minute mit der jungen Frau allein lassen.«
    »Ich muss mit Mallory sprechen, aber ich möchte ihr keine Schwierigkeiten machen.« Er tippte auf die Zeitung, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Was meinen Sie, ob Henry Roth mir behilflich sein würde?«
    »Ja, also, Mr. Butler …«
    »Charles.«
    »Gut, Charles. Dann sagen Sie aber bitte auch Augusta zu mir. Es ist durchaus möglich, dass Henry Ihnen helfen würde. Er ist stumm, Sie dürfen also nicht vergessen, Papier und Bleistift mitzunehmen. Sein Notizbuch hat er nicht immer bei sich.«
    »Mein Vater war taubstumm. Kann Mr. Roth sich in Zeichensprache verständigen?«
    »Ja. Kathy und ihre Mutter waren die Einzigen, mit denen er sich auf diese Weise unterhalten konnte. Dann kommen Sie sicher mit Henry gut aus.«
    Demnach war also Mallory, genau wie er, als Kind perfekt in der Zeichensprache gewesen. In der letzten halben Stunde hatte Charles über ihre frühe Kindheit mehr erfahren als sein alter Freund, der verstorbene Louis Markowitz, in all den Jahren, in denen er sie aufgezogen hatte. Der arme Louis hatte von seiner Pflegetochter, als er sie in New York von der Straße aufgelesen hatte, nur so viel gewusst, dass sie eine begabte zehnjährige Diebin war.
    Weil Augusta Trebec Ausschau nach einem Besuch halten wollte, den sie erwartete, folgte er ihr mit seiner Kaffeetasse durch den Gang zu der kleinen Tür in der Backsteinfassade. Er überlegte, wo wohl die Katze geblieben war. Dann sah er ihre Augen im Schatten eines antiken Porzellanschirmständers funkeln. Sie hatte zum Sprung angesetzt und sah ihn unverwandt an.
    »Lassen Sie die Katze bitte nicht raus«, sagte Augusta, als sie an dem Schirmständer vorbeiging. »Bestimmt träumt sie davon, sich einen Vogel zum Abendessen zu schnappen, und ich möchte keine falschen Hoffnungen in ihr wecken.«
    »Ich dachte immer, Katzen könnten so was gut.« Er hätte wetten mögen, dass diese hier ganz besonders blutrünstig war.
    »Sie ist eine begabte Mäusefängerin, denn da kommt es auf Schnelligkeit an, aber die Vögel sehen sie meist rechtzeitig und fliegen weg. Das goldgelbe Fell ist wie ein kleiner Steppenbrand.«
    Charles nickte. Mallory hatte ganz ähnliche Probleme. Demnach hatte sie bestimmt nicht all die Monate in Dayborn verbracht – nicht, wenn ihr einmaliges Erscheinen einen Herzanfall, eine Misshandlung und einen Todesfall auslösen konnte. Inzwischen hätte sie bestimmt schon die ganze Stadt ausgelöscht. Auf dem Schild, das ihn in Dayborn willkommen geheißen hatte, hatte gestanden, dass der Ort nur elfhundert Einwohner hatte.
    Er war dabei, die Tür zu schließen, als er durch den Spalt die Katze mit wildem Blick und entblößten Zähnen in langen Sätzen durch den Gang stürmen sah. Er zog die Tür zu und hörte, wie sie wütend gegen das Holz prallte.

2
    Charles bewunderte Augustas ansehnliche Beine und schlanke Fesseln, als sie vor ihm die breite Veranda hinaufstieg. Auf dem geschwungenen schmiedeeisernen Geländer hockten schwarze Vögel. Von der alten Dame ließen sie sich nicht stören, als aber Charles hinter ihr die steinernen Stufen heraufkam, flog einer nach dem anderen davon.
    Auf Augenhöhe mit dem schweren Sockel einer Säule sah er die sich immer weiter ausbreitenden Moospolster an dem Stein. Oben angekommen, musste er dem wild
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