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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman
Autoren: Noam Shpancer
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    I ch erinnere mich nicht mehr genau, wann mir klar wurde, dass Barry Long log. Ich weiß, dass man Begriffe wie Präzision nicht auf das Gedächtnis anwenden sollte. Auch vom Lügen sollte man so nicht sprechen. Dennoch belastet mich, wie die Sache ausging, dass es mir nicht gelang, zwei und zwei zusammenzuzählen. Schließlich bin ich weder taub noch blind. Ich erkenne oft, wo die Musik spielt, erkenne den Leopard im Gebüsch schon am Zucken seines Schwanzes. Ich bin auch nicht naiv. Im Gegenteil, meine Arbeit erfordert Skepsis. Außerdem Vertrauen. Man könnte sie als paradox bezeichnen. Ich bin Psychologe. Barry Long war mein Klient. Man könnte sagen, er war mein wichtigster Klient. Ich weiß, dass wir eigentlich keine »wichtigsten Klienten« haben sollen. Und doch haben wir sie. Die Dinge sind häufig nicht ganz, wie sie sein sollten, das lernt man im Laufe der Zeit.
    Zu Beginn war nicht offensichtlich, dass Barry Long log. Falls ein Schwanz im Gebüsch zuckte, sah ich ihn nicht. Doch andere Dinge wurden rasch offensichtlich. Zum Beispiel, dass er versuchen würde, sich umzubringen. In erster Linie, weil er es schon früher versucht hatte, wie seiner Akte zu entnehmen war. In meinem Beruf lautet das oberste Gesetz, dass die Vergangenheit die Zukunft voraussagt; zugegebenermaßen ein merkwürdiges oberstes Gesetz in einem Beruf, der danach trachtet, die Zukunft aus der Umklammerung der Vergangenheit zu befreien. Doch die Welt ist voller Merkwürdigkeiten – mit ihren Finten und Gesetzmäßigkeiten und jenen Finten, die als Gesetzmäßigkeiten daherkommen. Wie dem auch sei, wer es schon einmal versucht hat, wird es wieder versuchen. Deshalb war mir klar, dass Barry Long versuchen würde, sich umzubringen; auch weil er mir gegenüber davon gesprochen hatte.
    » Wenn ich im Wald hinter unserer Wohnung spazieren gehe « , sagte er mit schleppender, tonloser Stimme, » sehe ich zu den Bäumen hinauf und denke: An welchem Ast kann ich mich aufhängen? Welcher wird nicht brechen? Wohin kann ich gehen, damit mich niemand hört oder sieht? Wenn ich am Fluss entlanggehe, denke ich: Wo ist er tief und schnell genug, dass ich hineinspringen kann? Das ist für mich die Natur « , sagte er. » Der einzige Grund, warum ich es nicht schon längst getan habe, ist, dass ich Mimi nicht wehtun möchte. «
    Das Schicksal von Depressiven ist nicht nur, dass ihr Lebenswille erschöpft ist, sondern auch, dass er von einem anderen, ebenso mysteriösen und ebenso drängenden Willen ersetzt wird: dem Willen zu sterben. In einer Krise sehnen sich schwer depressive Menschen – die »true blue«, wie mein Boss John Savoia, der Eigentümer der New Mood Clinic, sie nennt – mit aller Kraft nach dem Tod, so wie Gesunde ums Überleben kämpfen: mit Schläue, Entschlossenheit und in dem festen Glauben, es sei ihr Recht und ihre Schuldigkeit, zu sterben.
    Depressive Klienten wie Barry Long sind das Alltagsgeschäft unseres Therapiezentrums. Ich kann sogar davon ausgehen, dass ich einigen von ihnen im Laufe der Jahre geholfen habe, auch wenn solche Annahmen schwer zu belegen sind. Der Klient kommt mehrere Monate zu uns, und manchmal verbessert sich sein Zustand. Doch sein Zustand könnte sich natürlich auch verbessert haben, wenn er nicht gekommen wäre; vielleicht ist die Besserung, deren Zeuge man wird, gar keine, sondern nur eine vorübergehende Waffenruhe, ein zufälliger Waffenstillstand, der weder einen echten Sieg noch einen dauerhaften Frieden bedeutet.
    Wie dem auch sei, bei Barry Long handelte es sich um einen durchschnittlich depressiven Klienten. Und dennoch rief seine Anwesenheit, grau und ruhelos wie eine Taube im Stadtpark, in mir von Anfang an Unbehagen hervor. Er war ein kleiner, adretter Mann mit einem dichten Haarschopf, hohen Wangenknochen und dem entrückten Blick eines Sechziger-Jahre-Folksängers. Er bevorzugte schlichte, in die Jeans gesteckte Herrenhemden mit geknöpften Manschetten und ordentlich gebügeltem Kragen. Er absorbierte weder das Licht, noch reflektierte er es, und er schien in einer schwachen Aura aus Zigarettenqualm zu existieren. Nach jeder Sitzung musste ich das Fenster öffnen und im ganzen Zimmer Lufterfrischer versprühen, um zu verhindern, dass die nächste Klientin sich aufregte – eine rundliche, weichherzige Frau, die gerade ihren Vater durch Lungenkrebs verloren hatte. Barry Longs rauchgeschwängerte, geisterhaft im Raum schwebende Hinterlassenschaft förderte die Wut und die Angst zutage,
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