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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman
Autoren: Noam Shpancer
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war. Wenn nicht – was gewöhnlich der Fall war, wie in dem unlesbaren Kleingedruckten erklärt wurde –, so musste er sie dies auf schnellstem und effizientestem Weg wissen lassen, um möglichst zügig zum nächsten Kunden überzugehen, damit er seinen Boss nicht vergrätzte, der sich ein paar Meter weiter die Zeit mit Computerspielen vertrieb. Ich erfuhr, dass Barry seinen Job verabscheute und dass er in letzter Zeit bei der Arbeit immer wieder die Beherrschung verloren hatte. Vor zwei Tagen zum Beispiel, als Reaktion auf eine Kundin aus Cleveland, die ihn unentwegt anschrie und beschimpfte – » Sie haben kein Herz « ; » Sie belästigen mich « ; » Ich hoffe, Ihre Mutter hat einen Unfall und landet im Rollstuhl « –, hatte er die Hand über den Hörer gelegt, sich über seinen Schreibtisch gebeugt und geflüstert: » Am liebsten würde ich die dumme Kuh abknallen. « Irgendwie hörte sie das – » Vielleicht habe ich nicht wirklich geflüstert; vielleicht habe ich, nun ja, geschrien « – und beschwerte sich, und jetzt hatte er eine Abmahnung am Hals. Noch ein solcher Zwischenfall, und er würde mit Sicherheit gefeuert. Ich erfuhr, dass er seit einiger Zeit an Schlafstörungen litt; der Schlaf kam und ging wie eine schlechte Telefonverbindung. Ich erfuhr, dass er jeden Tag erschöpft nach Hause kam und dass er keine Freunde hatte, mit Ausnahme von Mimi.
    » Und wie sieht es mit Sex aus? «
    » Den gibt es nicht. «
    Man mag es überraschend finden, aber Psychologen bekommen selten etwas über Sex zu hören. Vielleicht liegt es auch an mir. Vielleicht hören andere, dynamischere Psychologen, als ich einer bin, die ganze Zeit von Sex. Vielleicht höre ich auch deshalb nichts darüber, weil ich hauptsächlich mit depressiven Klienten arbeite. Zu den Merkmalen einer Depression gehört der Verlust der Libido. Die Aussagekraft des Themas Sex liegt deshalb für diese Klienten im beharrlichen Verschweigen desselben. Darüber hinaus können sich depressive Menschen oft nicht an glückliche Momente erinnern, weil diese im Gedächtnis mit positiven Stimmungen verknüpft sind. Die Stimmung wird zu einem Schlüssel für das Kästchen der Erinnerung. Sobald eine positive Stimmung sich aufgelöst hat, ist der Schlüssel verloren, wird der Zugang zu dieser Erinnerung verweigert.
    Ich kann mich an vielleicht zwei Klientinnen erinnern, die spontan auf Sex zu sprechen kamen. Die eine war eine rotwangige Frau mittleren Alters, deren rechtes Bein unentwegt zuckte. Sie erzählte mit einem verlegenen Grinsen, dass sie ihren Ehemann in einem Sexclub kennengelernt hatte. Dann präsentierte sie eine nicht ganz abwegige Theorie, wonach ein Sexclub vielleicht nicht der ideale Ort sei, seinen zukünftigen Ehemann kennenzulernen; andererseits vielleicht aber doch. Ich sagte ihr, Paartherapie sei nicht mein Gebiet, und verwies sie an einen von John Savoia empfohlenen Paartherapeuten, obwohl ich versucht war, sie noch eine Weile zu behalten, um die Details ihrer saftigen Geschichte zu erfahren. Doch in Gedanken sah ich Johns strenge Miene, hörte seine tadelnde Stimme und verwies sie weiter.
    Die zweite Klientin, die das Thema Sex ansprach, war eine blasse Geschäftsfrau mit bleistiftdünnen Augenbrauen, eine gläubige Katholikin, die, während Ehemann und Kinder schliefen, regelmäßig im Keller verschwand, um vor ihrem Computer zu masturbieren. Dort sah sie sich demütigende Szenen an, aufgeführt von muskulösen Männern mit Ledermasken, gelegentlich auch Bilder von Wildpferden, die durch die Prärie galoppierten, oder Videoclips über Monstertrucks, die mit gigantisch mahlenden Rädern reihenweise Mittelklassewagen zerquetschten. Gleichzeitig glaubte sie aus tiefstem Herzen, dass Masturbation eine Sünde und von der Bibel verboten sei und der harte, bittere Lohn mit Sicherheit auf sie warte.
    » Ich tue es, und dann habe ich das Gefühl, beten zu müssen, sofort, auf der Stelle. Je mehr ich bete, desto mehr erinnert mich das Gebet an die Tat, die es herbeigeführt hat. Ich weiß nicht mehr, ob das Gebet mich von meinem Tun läutert oder ob dieses Tun das Gebet besudelt. « Ich sagte ihr, dass es auf diese Frage möglicherweise keine Antwort gab. Doch sie bestand darauf, dass es eine Antwort gab, dass Er die Antwort kannte, und dass es ihre Pflicht war, Seine Antwort herauszufinden. Da Seine Wege geheimnisvoll und Seine Logik unergründlich seien, bot ich ihr an, dass wir vielleicht etwas bescheidener erst einmal versuchen sollten,
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