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Blutsgeschwister

Blutsgeschwister

Titel: Blutsgeschwister
Autoren: Dia Reeves
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KAPITEL EINS
    Fancy ließ nur drei Menschen auf der ganzen Welt in ihre Nähe: Daddy, der im Todestrakt saß; Madda, die wie immer Nachtschicht hatte; und Kit, die wie eine Tote im Bett neben ihr schlief. Und als sie dann aufwachte und einen Typen über sich gebeugt fand, der in ihre persönliche Sphäre eindrang, war ihr erster Instinkt, ihm ihren Traumtagebuchstift ins Auge zu rammen.
    Aber sogar in der tiefsten Nacht mit einem Fremden in ihrem Zimmer lag es Fancy fern, unüberlegt zu handeln. Daddy hatte unüberlegt gehandelt, und jetzt würde er getötet werden. Nein, Fancy würde ruhig bleiben und sich eine nicht tödliche Möglichkeit überlegen, dem Eindringling beizubringen, warum es so wichtig war, ein junges Mädchen spät in der Nacht in seinem Bett nicht zu stören.
    Sie atmete die gelben, bierigen Ausdünstungen des Eindringlings ein. Er keuchte, als wäre er nervös oder erregt. Die Wärme seiner Hand wisperte über Fancys Wange, und sie spürte ein Ziehen auf ihrer Kopfhaut. Eine Schere blitzte im Dunkeln auf, und dann fiel eine Locke von Fancys Haar gegen ihre halb geschlossenen Augen, viel kürzer nun als zuvor.
    Als der Eindringling seine Aufmerksamkeit Kit im anderen Bett zuwandte, glitt Fancy leise auf den Boden.
    Weil Fancy und ihre Schwester auf der Veranda hinter dem Haus schliefen – einem Raum mit Fliegengittern anstelle von richtigen Wänden –, verließen sie sich auf zahlreiche Briefbeschwerer, damit das Papier nicht von der steten Brise durcheinandergeriet. Fancy schnappte sich einen dieser Briefbeschwerer von dem Schreibtisch am anderen Ende des Raums, ohne dabei den Rücken des Eindringlings auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
    Während er wie ein Vampir über ihrer schlafenden Schwester lauerte, kroch Fancy näher, den Briefbeschwerer im Anschlag. Kühl, glatt und schwer lag er in ihrer Hand, und der Kopf des Eindringlings wuchs in ihrem Blickfeld. Aber bevor sie ihre Faust nach vorn schwingen konnte, schrie der Eindringling auf und taumelte zurück, kreiselte an Fancy vorbei und krachte in den Schminktisch.
    Das Licht ging an. Fancy blinzelte geblendet und ließ den Briefbeschwerer fallen. Sie hörte, wie er wegrollte. Das Licht ließ sie wieder zu sich kommen, zurück in die Realität – zu den weißen Leinenbezügen auf den Betten, den Medizinbüchern mit den gebrochenen Rücken, die an der einzigen richtigen Wand hinter Fancy standen, dem alten schwarzen Plattenspieler bei dem Teetisch. Zu den auf den Regalbrettern aufgereihten Einweckgläsern, die mit verschiedenen Tierorganen bestückt waren.
    Der Eindringling war das einzig Fremdartige, harmlos und unbewaffnet, da seine Schere nun einsam auf dem Boden zwischen den Betten der Schwestern lag. Er fiel der Länge nach vor den Schminktisch. Kreidebleich, jung, verschwitzt. Der goldene Griff von Kits Springmesser ragte hübsch verziert aus seiner Seite, wie ein seltsamer Türknauf zu einer anderen Welt.
    »Hilfe!«, schrie er. Seine Hände flogen über den Griff des Springmessers, doch er hatte Angst davor, es herauszuziehen.
    Kit kniete sich in ihrem pinkfarbenen Satinhöschen neben den Eindringling. Sie war so wach und gut gelaunt, als hätte sie die ganze Nacht getanzt. »Nach wem schreist du, Schätzchen?«, fragte sie mit dem ihr eigenen Eifer, an dem auch die späte Stunde und die merkwürdigen Umstände nichts änderten. »Hier ist keiner außer Fancy und mir.«
    Sie riss ihr Messer heraus, und der Eindringling zuckte zurück gegen den Schminktisch. Das Blut sickerte in sein T-Shirt und breitete sich aus wie ein elektrisch-roter Bluterguss. Einer von Kits Lippenstiften fiel in seinen Schoß wie ein stummer Hinweis des Universums, dass er sich zurechtmachen sollte – er sah wahrhaftig nicht besonders gut aus.
    Bevor sie das Messer zuklappte, wischte Kit es an der Jeans des Eindringlings ab. Dann musterte sie ihre jüngere Schwester, um festzustellen, ob sie verletzt war. »Ich dachte, du schläfst.«
    »Dachte ich auch von dir«, sagte Fancy.
    »Ich hab gesehen, wie er sich über dein Bett gebeugt hat. Was hat er mit dir gemacht?« Kits Frage klang heiter, aber der Blick, den sie dem Eindringling zuwarf, war alles andere als das.
    Fancy berührte die abgeschnittene schwarze Locke, die vor ihren Augen hing. »Er hat mir die Haare geschnitten.« Er hatte ihr noch eine Menge gelassen. Anders als Kits kurz geschnittene Haare fielen Fancys in einem flauschigen Wasserfall über ihre Schultern.
    »Na ja, er ist bestimmt
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