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Blutsgeschwister

Blutsgeschwister

Titel: Blutsgeschwister
Autoren: Dia Reeves
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Kit.
    Der Eindringling zögerte verschämt. »Um es im Internet zu verticken.«
    »Craigslist oder eBay?«
    »Egal.«
    »Mir auch egal«, sagte Kit, als würde sie ein Geheimnis verraten.
    »Ich dachte, ich könnte ein bisschen Extrageld für die Schule bekommen, nur …«
    Kit führte das Springmesser an seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Lippen zitterten unter dem Druck der Klinge. »Schule ist aus, Herzchen.«
    Fancy schob sich näher an die Pritsche. »Kit, hör mal …«
    »Was meinst du?«, fragte Kit, als sie mit der Klinge auf den Mund des Herumtreibers tippte. »Hals? Herz? Seine Augen wären natürlich die erste Wahl, aber ich will in sie hineinsehen, wenn er stirbt.«
    »Warum? Glaubst du, du siehst Daddy in seine Hornhaut gestanzt, wie er dir ein Daumen-hoch gibt?« Fancy bereute ihre scharfen Worte, als Kit sie zitternd und mit Tränen in den Augen ansah.
    »Hört sich gut an.«
    Und so lieferte Kit ihr die Atombombe, nach der sie die ganze Zeit gesucht hatte. »Wenn du Daddy sehen willst, zeige ich ihn dir.«
    Kit starrte ihre Schwester lange einfach nur an. Sie brachte kein Wort heraus, und als es ihr endlich gelang, war ihre Stimme ungewöhnlich sanft. »Du hast gesagt, dass du ihn nicht mehr sehen kannst.«
    »Ich hab’s nicht mal versucht«, gab Fancy zu. »Schon lang nicht mehr. Aber ich werd’s tun, wenn du versprichst, ihn nicht zu töten.«
    »Du würdest es tun?«
    »Ich würd’s versuchen.«
    Kit schwang sich von der Pritsche. Ihre Augen glänzten wie zuvor, nur nicht von den Tränen – sondern vor Aufregung. »Versuch’s jetzt!«
    Fancy scannte das Metallregal, wusste aber, dass es hoffnungslos war. »Hier ist nichts, durch das ich sehen kann.«
    »Das Kinetoskop?«
    Kit schob Fancy vor die schmale Kirschholzkiste. Sie hatte vorne eine runde Linse und war auf einem Messingständer befestigt. Vor ungefähr hundert Jahren war sie so etwas wie ein Fernseher gewesen – die Leute drehten an der Kurbel und sahen zu, wie sich hinter der Linse die Bilder bewegten. Daddy hatte das Kinetoskop repariert, aber nicht die richtige Sorte Film oder eine Kurbel gefunden, die es zum Laufen brachte. Doch obwohl die Maschine leer war und keine Kurbel hatte, konnte man trotzdem bewegte Bilder darin sehen.
    Zumindest konnte Fancy es.
    Sie hatte Weitsicht. So nannte es Daddy – die Fähigkeit zu sehen, was nebenan oder meilenweit entfernt passierte. Sie brauchte nur auf etwas zu schauen, das reflektierte, und sie konnte alles sehen: Sie konnte sogar Dinge erschaffen. Den glücklichen Ort beispielsweise, eine Welt, die sie erfunden hatte, nachdem Daddy gegangen war. Eine Welt, die sie brauchte. Die echte Welt hatte vor langer Zeit schon aufgehört, Spaß zu machen.
    »Ich sehe immer nur den glücklichen Ort im Kinetoskop«, protestierte Fancy. Ihr Angebot tat ihr schon leid. Es schmerzte zu sehr, an Daddy zu denken. »Ich hab nie etwas Echtes in diesem Ding gesehen.«
    »Du hast gesagt, dass du’s versuchst.«
    Also versuchte Fancy es.
    Sie musste nur an das denken, was sie sehen wollte – echt oder erfunden –, dann konnte sie es sehen. Deshalb wusste sie gleich, als die Linse des Kinetoskops schwarz blieb, dass es nicht funktionierte. Aber sie zog die Augenbrauen zusammen und ballte die Fäuste, damit Kit sah, dass sie es wenigstens …
    Ein Schrei ließ sie gerade noch rechtzeitig herumwirbeln, um zu sehen, wie Kits goldene Klinge über die Brust des Eindringlings schnitt. Ein zweiter Schnitt kreuzte den ersten und formte ein großes, rotes X .
    » Kit!«
    »Lass dich nicht stören«, sagte sie gut gelaunt. »Ich vertreib mir nur die Zeit.«
    »Du hast versprochen, dass du ihn nicht umbringst!«
    »Sieht er etwa tot aus?« Kit zeigte mit der tropfenden Klinge auf den Eindringling, der sich mit wildem Blick wand. »Ich finde nämlich, er sieht eigentlich ganz lebendig aus. Ich spiel nur mit ihm, bis du Daddy auf den Bildschirm bringst.« Sie zog die Klinge zurück, und Fancy schaute schnell wieder in das Kinetoskop. Der glückliche Ort blühte hell und groß in der runden Linse, ein zumeist sepiafarbenes Panorama direkt aus Wohnen und Garten . Das passierte manchmal, ohne dass sie bewusst daran denken musste.
    Der Kopflose Garten war auf dem Bildschirm, der Bereich des glücklichen Orts, den sie am liebsten betrachtete, weil er sie am meisten beruhigte. Fancy kannte den Ort gut, bis hin zu der Sonnenuhr und den Brunnen, den Tierformschnitten und den sorgsam gestutzten Hecken.
    Genau in
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