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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman
Autoren: Noam Shpancer
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wirtschaftlichen Lage, zum anderen, weil es ihr inzwischen an Ehrgeiz und jugendlicher Unerschrockenheit mangelte.
    Doch vor kurzem hatte sich eine Tür aufgetan. Brandy Savoia, Johns tüchtige junge Frau, ersann ein neues Geschäftsmodell, ein Dienstleistungsunternehmen, das Senioren dabei unterstützte, in Seniorenwohngemeinschaften, betreutes Wohnen und Pflegeheime umzusiedeln.
    Viele alte Menschen hätten keine Familie, die ihnen zur Seite steht, wenn die Zeit für den großen Umzug gekommen ist und sie sich der Fürsorge von Fremden anvertrauen müssen, erklärte mir Alex. Und selbst wenn es eine Familie gab, war diese vielleicht weit weg, nicht willens oder nicht in der Lage zu helfen. Wie sich zeigte, hatte Brandy Savoia ein Bedürfnis erkannt. Sie war von Natur aus eine zupackende Frau, die eine Nische ausfüllen konnte – sie war entschlossen, lächelte viel und kannte sich aus in Fragen der Inneneinrichtung, des An- und Verkaufs und darin, allen möglichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Sie schloss Verträge mit einigen örtlichen Pflegeheimen ab und erledigte in deren Auftrag gegen eine Gebühr den Übergang in ein anderes Leben. Doch bald wurde deutlich, dass dieses Geschäft noch eine zusätzliche Dimension aufwies, die Brandy nicht vorhergesehen hatte. Diese Dimension umfasste den engen Kontakt mit zerbrechlichen, einsamen Alten am Rande der Dunkelheit; sie umfasste existentielle Angelegenheiten und Fragen, Dinge, denen Brandy gerne aus dem Weg gehen wollte – und wer konnte ihr das zum Vorwurf machen? Deshalb kam sie auf die Idee, Alex um Hilfe zu bitten.
    Der neue Job nahm Alex bald voll und ganz in Anspruch. Sie verbrachte mehr und mehr Zeit in Brandy Savoias Büro und in den Häusern dieser fragilen Senioren, deren Welt immer enger wurde. Im Gegensatz zu Brandy, die vor jeder körperlichen Nähe zurückschreckte, die ihre weißen Jacketts beschmutzen oder ihre Kaschmirschals hätte beschädigen können, betrat Alex ohne zu zögern das Haus des Kunden, beugte sich zu dem zerbrechlichen, nahezu blinden, zitternden Mann hinunter und sagte mit warmer Stimme: » Wie geht es Ihnen, Mr. Gross? Ich heiße Alex. « Sie sah sich um, nahm das gerahmte Foto seiner Urenkel vom Klavier und sagte: » Süße Kinder … wie heißen sie? « Sie ging auf die Knie und begann, Mr. Gross’ Habseligkeiten einzusammeln – seine Schuhe, seine Fotoalben – und sie sorgfältig in Kisten zu packen; und sie bat ihn, ihr zu sagen, was zurückgelassen und was mitgenommen werden sollte. Wenn er sich weigerte, sich von seinen Besitztümern zu trennen, sagte sie geduldig: » Gut, dann packen wir erst mal nur ein, was Sie sofort brauchen. Einverstanden?«
    In der Zwischenzeit ging Brandy durch die Wohnung, wählte die notwendigen Möbelstücke aus, nahm präzise Maß und kalkulierte. Dann griff sie zur Schere, schnitt winzige, maßstabsgetreue Modelle aus einer Schablone und klebte sie auf einen Grundriss der neuen Wohnung, den sie auf ihrem Klemmbrett befestigt hatte. Sie bemühte sich unterzubringen, was der Kunde in seinem neuen Zuhause – das unvermeidlich kleiner war als das alte, ein umgekehrter Geburtsvorgang sozusagen – brauchte und wünschte, ohne dass die Räume überfüllt oder unbequem wirkten. Sie erhob dies geradezu zu einer Kunst.
    Alex packte währenddessen. Die Alten zupften sie dankbar und unter Tränen am Ärmel und baten sie, sich zu ihnen zu setzen, zu einer Tasse lauwarmem Tee und altbackenen Keksen. Dann zeigten sie mit zittrigen Händen in verstaubten Alben auf Fotos aus ihrer Jugend. Sie erzählten ihr die alten Geschichten, und sie war ihnen eine aufmerksame – und möglicherweise letzte – Zuhörerin. In den Augen des alten Mr. Gross standen Tränen, als er ein altes Foto von sich aus dem Krieg in den Händen hielt, in frisch gebügelter Marineuniform, mit vollem Haar und in aufrechter Haltung. Auch Alex kamen die Tränen.
    Brandy Savoia rief wiederholt vom Büro aus an, wo sie sich darum bemühte, die Nachricht von ihrem neuen Seniorendienst in der Gemeinde zu verbreiten, um Alex daran zu erinnern, dass auch ihre Zeit begrenzt sei, wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie die des Kunden. » Zeit ist Geld, und Geld ist Geld, liebe Alex, wenn du verstehst, was ich meine. «
    Zumindest am Anfang gewährte Alex mir hin und wieder Zutritt zu dieser neuen Welt, in die sie so plötzlich abgetaucht war. Wir gingen zum Abendessen zu Ake’s, unserem Lieblingsrestaurant in der Nachbarschaft. Wir saßen vor
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