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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman
Autoren: Noam Shpancer
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die in ihr schlummerten, ließ sie in Tränen ausbrechen und abgehackt vom Vergessen sprechen.
    Barry Long saß auf dem roten Sofa, nahm ein Zierkissen und drückte es sich fest gegen die Brust, eine Angewohnheit, die ich als eine übertrieben defensive Geste empfand (vor dem Tod hat er keine Angst, vor mir aber schon?) und als ein Zeichen von Unreife, was für seine Prognose nichts Gutes erahnen ließ. Eine Depression ist schließlich ein ernsthafter Gegner – wie einer dieser Komodo-Warane, die ihren giftigen Biss an den Sprunggelenken eines Wasserbüffels ansetzen, der zehnmal größer ist als sie selbst, sich dem Büffel dann wochenlang lautlos an die Fersen heften, bis er zusammenbricht, und ihn schließlich auffressen.
    Barry Long umklammerte also das Kissen und stimmte sodann mit schwacher, zittriger Stimme eine Klage über sein Leben an, das in seinen Augen überhaupt nicht als Leben bezeichnet werden konnte und das er schon vor langer Zeit beendet hätte, wenn er nicht befürchten müsste, damit Mimi wehzutun. Mimi sei seine Freundin, sagte er. Im Rollstuhl, ein tragischer Unfall; sie lebe von der Entschädigung und einer Unfallversicherung. Er helfe ihr bei ihren täglichen Verrichtungen, so gut er könne, was keine besonders große Hilfe sei, eigentlich überhaupt keine. Sie unterstütze ihn an seinen schlechten Tagen, also eigentlich fast immer. Mimi erinnere ihn daran, seine Medikamente zu nehmen und seine Arzttermine einzuhalten. Wenn er aus einem Albtraum aufwache, sage sie: Es ist nur ein Traum. Schlaf weiter.
    » Ohne Mimi « , sagte er, » würde ich es nicht schaffen, könnte ich dieses Leben nicht mehr ertragen, falls man es überhaupt ein Leben nennen kann. Ich nenne es nicht so. «
    Barry Long erschien nicht zu seinem ersten Termin. Er rief eine Stunde später an und sagte, seine Freundin fühle sich nicht gut, deshalb müsse er absagen. Er entschuldigte sich wortreich, und ich fragte mich, ob man nach den Gesetzen der Logik einen Termin noch absagen konnte, wenn er bereits verstrichen war. Ich versuchte, ihn zu beruhigen.
    » Alles in Ordnung « , sagte ich. » Uns allen kommt manchmal etwas dazwischen. Wir vereinbaren einen neuen Termin für nächste Woche. Nein, ich bin nicht wütend. Ja. Ich hoffe auch, dass es nicht wieder vorkommt. Kein Grund für große Erklärungen, weder jetzt noch in Zukunft. Kommen Sie einfach zum nächsten Termin, lassen Sie uns das versuchen. Ja, ich sehe Sie dann nächste Woche. Nein, ich bin nicht wütend. «
    John Savoia ist der Meinung, dass ich meinen Klienten gegenüber zu nachgiebig bin. » Du entwertest deine eigene Zeit « , sagt er dann. » Ein Klient, der nicht auftaucht, ohne vierundzwanzig Stunden vorher abzusagen, sollte für den Termin bezahlen – der Behandlungsvertrag besagt das ganz eindeutig. Deine Zeit, die Zeit eines Experten, ist wertvoll, und du solltest schützen, was wertvoll ist. « John nimmt dann ein Taschentuch und wischt sich über die Stirn, obwohl er nie schwitzt. Ich glaube nicht, dass er überhaupt Schweißdrüsen hat. Doch seine Gesichtshaut glänzt stark, als wollte sie sagen: Ich bin stolz darauf, John Savoias Haut zu sein!
    John tadelt seine Klienten gewöhnlich für ihr Zuspätkommen, weist sie » freundlich, aber entschieden « zurecht – eine Ausdrucksweise, die mir ob ihrer seltsamen Tröstlichkeit immer wieder auffällt – und forscht eindringlich nach den tiefer liegenden Ursachen ihres Verhaltens. Doch ich neige dazu, es durchgehen zu lassen; vielleicht weil ein verspäteter Klient oder einer, der gar nicht auftaucht, ein wenig freie Zeit bedeutet, und solche Freiräume fühlen sich an wie ein Geschenk, Flecken blauen Himmels an einem ansonsten langen, trüben Wintertag; vielleicht auch, weil ich einen verspäteten oder gar nicht auftauchenden Klienten nicht als Beleidigung meines Berufsstands auffasse – eines Berufsstands, den ich zwar für durchaus ehrenvoll halte, für allzu hochmögend dann allerdings doch wieder nicht.
    Die Psychotherapie wird gelegentlich überschätzt. Viele junge Leute, die diesen merkwürdigen Beruf ergreifen, träumen davon, einen Thron absoluter, von Empathie getragener Weisheit zu besteigen. Häufig fühlen sie sich von der strukturellen Einfachheit dieser Arbeit angezogen – kein Bedarf an komplexen Instrumenten, teurer Technologie oder hoher Mathematik. Nur ein Stuhl und eine Stimme, und in dieser Stimme die Kraft zu heilen. Manche von ihnen – diejenigen, die sich im Dschungel
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