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Der glücklose Therapeut - Roman

Der glücklose Therapeut - Roman

Titel: Der glücklose Therapeut - Roman
Autoren: Noam Shpancer
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menschlicher Belange nur schwer zurechtfinden – suchen Zuflucht in dem sicheren Rahmen der therapeutischen Begegnung, wo Vertraulichkeit in einem klar definierten Umfeld hergestellt wird und die zahlreichen Schrecken einer lebendigen, spontanen Annäherung neutralisiert werden. In der grenzenlosen Eitelkeit der Jugend trachten die meisten von ihnen danach, die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten.
    Tatsächlich jedoch verbringt der Therapeut seine Tage in einem kleinen, spärlich beleuchteten Raum bei geschlossenen Fenstern und nimmt die Gebrochenheit von Fremden in sich auf; und das Stunde um Stunde, Tag für Tag, jahraus, jahrein. Niemand sieht ihn bei seinem Bemühen. Niemand erkundigt sich danach. Und selbst wenn das der Fall ist, kann er keine Auskunft geben, da er der Schweigepflicht unterliegt. Nicht einmal er selbst vermag Erfolg und Misserfolg klar zu unterscheiden, denn Unterscheiden ist niemals einfach; die Differenzierung beruht auf der persönlichen Aussage des Klienten, und die ist von Natur aus lückenhaft, denn auch der gesündeste Blick auf die Dinge weist blinde Flecken auf. So verliert sich das Bemühen des Therapeuten in einem Nebel, der unergründet bleibt, denn im Wartezimmer wartet bereits der nächste Klient. Und dann der nächste. Und der übernächste. Und so weiter.
    Was mich betrifft, so kam ich eher durch Zufall zu diesem Beruf als durch genaue Zielvorstellungen und habe ihn daher auch kaum überschätzt. Ich war nicht betrunken und hatte deshalb auch keinen Kater. Dennoch, Arbeit ist Arbeit, und mit der Zeit machte sie mich müde. Ich beklage mich nicht – es liegt mir nicht, mich zu beklagen. Mein Vater ließ das nie zu, er akzeptierte weder Ausreden noch Selbstmitleid und duldete keine Ermüdungserscheinungen.
    » Das Leben ist kein Penis « , pflegte er zu sagen, noch bevor ich alt genug war, Analogien im Allgemeinen oder diese im Besonderen zu verstehen. » Das Leben ist immer hart. Ha ha. « Dann ließ er seine Hand so schwer in meinen Nacken fallen, dass ich Sternchen sah.
    Vielleicht haben die Jahre mit Schwerstdepressiven mir auch das eine oder andere beigebracht: Wer sich beklagt, strapaziert sich selbst und seine Umgebung. Wer jeden Morgen aufsteht und zur Arbeit geht, dessen Hoffnung bleibt bestehen. Doktor Helprin, ein hochverdienter alter Wissenschaftler, mein Freund und Mentor während meiner Zeit als Praktikant im Larsen P. Clark Mental Hospital, sagte einmal: » Sie müssen es so sehen: Zwei Krankenschwestern treffen sich nach einer langen Nachtschicht. Die erste sagt: ›Ich hatte eine schwere Nacht.‹ Die zweite sagt: ›Die Patienten hatten eine schwere Nacht.‹ Seien Sie wie die zweite Krankenschwester. « Dann lehnte er sich auf seinem zerknautschten Ledersessel zurück, schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und seufzte: » Ach, ach, Jingele. «
    Und so versuche ich, so gut ich kann, wie die zweite Krankenschwester zu sein. Doch immer wieder regen sich Zweifel in mir und sprechen mit der Stimme der ersten Schwester, stellen Fragen zu meinen eigenen Problemen und anderen Wegen, die ich hätte einschlagen können.
    John Savoia sagt, ich solle mein Fachgebiet ändern, vielleicht mit Kindern arbeiten. » Die sind leicht zu beeindrucken « , sagt er. » Eine kleine Süßigkeit erledigt vieles. Kinder heitern einen auf, nicht wahr? Von ihrem Standpunkt aus ist das Ende noch nicht in Sicht. Das ist ein Trost. «
    Doch ich weigere mich; vielleicht weil ich den Verdacht hege, dass John sich eher dafür interessiert, das Gesetz von Angebot und Nachfrage in seiner Klinik zu befriedigen, als mich glücklich zu machen; vielleicht auch, weil ich meine eigene Vaterschaft immer als eine verhältnismäßig schwierige Aufgabe erlebt habe. Natürlich liebe ich meine Tochter Sam – mit ihren Sommersprossen, den dunklen Haaren, dem feurigen Blick und der hohen Stirn eines antiken Philosophen –, doch es liegt in der seltsamen Natur der Elternschaft, dass eine im Abstrakten so tiefgreifende Aufgabe durch so viele geistlose, ermüdende Pflichten kompromittiert wird. Ich gestehe, dass ich während Sams Kindheit manchmal Überstunden vorschob, um länger in der Praxis bleiben und mich diesen Pflichten entziehen zu können.
    Selbst wenn ich mit ihr zusammen war, zog ich mich oft genug in mich selbst zurück; wenn ich sie auf der Schaukel anstieß oder neben ihr auf dem Wohnzimmerteppich lag, schweiften meine Gedanken ab zu anderen Zeiten und anderen Orten, zum Fall eines
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