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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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1.
    MEIN VATER WAR GLÜCKLICH.
    Und ich dachte immer, er hätte gar kein Talent zum Glücklichsein.
    Seine gelöste Miene, aus der alle Ängste verschwunden waren, war mir zuweilen nicht ganz geheuer.
    Er kauerte auf einem Haufen Steine, hatte die Arme um die Knie geschlungen und schaute dem Abendwind zu, der die schlanken Halme umfing, sich auf ihnen niederließ, sie fieberhaft zauste. Die Weizenfelder wogten wie abertausend Pferdemähnen. Nicht anders als sturmgepeitschte Meereswellen. Und mein Vater lächelte. Ich erinnere mich nicht, dass ich ihn je hätte lächeln sehen; er war es nicht gewohnt, seine Zufriedenheit zu zeigen – hätte er je Grund dazu gehabt? Er war leidgeprüft, sein Blick ständig auf der Lauer, sein Leben eine einzige Abfolge von Enttäuschungen. Er traute der Zukunft nicht über den Weg, witterte hinter jedem neuen Tag Treulosigkeit und Verrat.
    Freunde hatte er meines Wissens nicht.
    Wir lebten zurückgezogen auf unserem Stückchen Land, Gespenstern gleich, die sich selbst überlassen sind, im nagenden Schweigen derer, die einander nicht viel zu sagen haben: meine Mutter im Dunkel der Baracke über ihren Kessel gebeugt, mechanisch in einer trüben Brühe rührend, die vor allem aus Erdmandeln bestand, Zahra, meine Schwester, drei Jahre jünger als ich, in einem vergessenen Winkel hockend, so unscheinbar, dass manihre Gegenwart glatt übersah, und ich, ein magerer und verschlossener Knabe, kaum erblüht und schon halb verwelkt, der schwer an der Last seiner zehn Jahre trug.
    Es war kein Leben; wir existierten, mehr nicht.
    Dass wir morgens aufwachten, grenzte an ein Wunder, und abends vor dem Einschlafen fragten wir uns, ob es nicht vernünftiger wäre, die Augen ein für alle Male zu schließen. Wir waren überzeugt, alles Wesentliche gesehen zu haben und dass es letztlich nicht der Mühe wert war. Die Tage waren einander zum Verzweifeln ähnlich; sie brachten nichts, und wenn sie vergingen, nahmen sie unsere letzten Illusionen mit, hinter denen wir hertrabten wie der Esel hinter der Möhre, die man ihm vor die Nase bindet.
    Es waren die 1930 er Jahre, Elend und Epidemien dezimierten die Familien und ihre Viehbestände mit unfassbarer Grausamkeit. Wer überlebte, dessen Los war die bittere Not, wenn er sich nicht zum Fortgehen entschloss. Die wenigen Verwandten, die wir noch hatten, gaben keinerlei Lebenszeichen von sich. Und die Lumpengestalten, die in der Ferne vorüberzogen, hätte der Horizont bestimmt im Handumdrehen wieder verschluckt, denn von dem Pfad, dessen Furchen sich bis zu unserer armseligen Behausung hinzogen, war kaum noch etwas übrig geblieben.
    Meinem Vater war das egal.
    Er war gern allein, zog keuchend seinen Pflug, die Lippen weiß vor Schaum. Manchmal kam er mir vor wie ein Gott, der seine Welt neu erfindet, und ich konnte ihn stundenlang beobachten, so fasziniert war ich von seiner Widerstandskraft und Hartnäckigkeit.
    Wenn meine Mutter mich beauftragte, ihm das Essen zu bringen, trödelte ich besser nicht herum. Mein Vater pflegte sein karges Mahl pünktlich einzunehmen, er wollte immer gleich weiterarbeiten. Ich hätte gern einmal ein nettes Wort aus seinem Mund gehört oder nur eine Minute seine Aufmerksamkeit gehabt; doch mein Vater hatte nur für eines Augen, für seinLand. Nirgends als hier, inmitten dieses weizenblonden Universums, war er in seinem Element. Durch nichts und niemand, nicht einmal die, die seinem Herzen am nächsten standen, ließ er sich davon ablenken.
    Wenn er bei Sonnenuntergang in unsere Lehmhütte zurückkam, verloren seine Augen ihren Glanz. Er wurde ein anderer, ein Durchschnittswesen, reizlos und uninteressant. Fast enttäuschte er mich.
    Aber seit einigen Wochen schwebte er im siebten Himmel. Die Ernte versprach überraschend gut auszufallen und all seine Prognosen in den Schatten zu stellen … Da er bis über beide Ohren verschuldet war, hatte er eine Hypothek auf die Ländereien aufgenommen, die seit Generationen im Besitz der Familie waren, und er wusste, dass er gerade sein letztes Pulver verschoss. Er ackerte für zehn, mit einer heiligen Wut im Bauch, und gönnte sich keine Verschnaufpause; blauer Himmel versetzte ihn in Panik, die kleinste Wolke begeisterte ihn. Ich hatte ihn nie zuvor so inständig beten und sich so hartnäckig verausgaben sehen. Und als der Sommer kam und der Weizen die Ebene mit glitzernden Pailletten überzog, nahm mein Vater auf seinem Steinhaufen Platz und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Unter seinem
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