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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel
Autoren: Carol O'Connell
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mit einem Unsichtbaren Zwiesprache hielt, war unverkennbar, und es sah aus, als würde das Gespräch von ihrer Seite aus mit großer Erbitterung geführt.
    Was mochte der Himmel in ihren zornigen Zügen gelesen haben? Ein plötzlicher Windstoß schob ihm Wolken vors Gesicht, und das Gespräch war zu Ende.
    Alle Begrenzungen missachtend, marschierte Mallory über Kies und Gras hinweg zwischen den Standbildern und Grabdenkmälern herum. Vor der Figur, die ihr am meisten bedeutete, blieb sie einen Augenblick stehen, dann setzte sie ihren Weg fort.
    Er folgte ihr mit dem Blick bis zum Wald, der Henrys Haus umgab, sah, wie sie am anderen Ende wieder herauskam und mit großen, geschmeidigen Schritten den Deich erklomm. Oben angekommen, hielt sie inne und sah auf den Friedhof hinunter. Rasch zog Charles sich wieder in den Baumschatten zurück.
    An dieser Stelle sagte er ihr wortlos Lebewohl, obgleich sie noch ein paar Tage zusammen über Land fahren würden. Die eigentliche Trennung würde prosaischer sein: Sie würde in den Canyons der New Yorker Wolkenkratzer untertauchen und ihn vergessen. Und er beschloss, sich nie mehr zu erniedrigen, indem er ihr folgte wie ein Hund und in ihren Augen immer kleiner wurde, bis er ganz verschwunden war.
    Die Wolken lockerten zu einem zarten Spitzenmuster auf und gaben die Gestirne frei.
    Leb wohl, Kathy Mallory.
    Er wiederholte den Namen laut, und plötzlich, fast gegen seinen Willen, erkannte er einen weiteren Zusammenhang. Dazu brauchte er sich nur in Mallory hineinzuversetzen, was zugegebenermaßen ein wenig schwierig war, denn das Kind, an das er in diesem Augenblick dachte, war erst sechs Jahre alt. Im Schrank hatte Kathy keinen Laut von der Mutter vernommen, dafür aber gehört, dass draußen jemand zu der schweigenden Menge sprach. Sie hatte vielleicht nicht einzelne Worte verstanden, aber die Stimme erkannt und sie mit Malcolm in Verbindung gebracht, den seine Freunde Mal nannten.
    Mal Laurie - Mallory.
    Das Kind hatte den Namen jenes Mannes angenommen, der ihre Mutter ermordet hatte. Schon damals hatte sie sich geschworen zurückzukehren, wenn ihre Hände stark genug wären, eine todbringende Waffe zu halten. Tag für Tag hatte sie sich mit diesem verhassten Namen anreden lassen, um das schlimmste Leid, das einem Kind widerfahren kann, nie zu vergessen.
    Es dauerte geraume Zeit, bis Charles seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Und dann vergaß er, dass er sich ja eigentlich schon von Mallory verabschiedet hatte, und machte sich in der sternenklaren Nacht auf, um ihr zu folgen. Er wollte sie festhalten, ganz fest, wollte sie zwingen, sich von ihm über all das, was sie verloren und erlitten hatte, hinwegtrösten zu lassen.
    Was ihr möglicherweise gar nicht recht, ja, was ihr vermutlich sehr unwillkommen war. Höchstwahrscheinlich würde sie versuchen, ihn abzuwehren wie eine lästige Fliege, aber eine Fliege dieser Größe wird man so schnell nicht los.
    Pech gehabt, Mallory.
    Er sehnte sich sehr danach, sie in den Armen zu halten. Und nun fasste er einen Entschluss, der sie bestimmt noch mehr in Rage bringen würde. Solange er - oder sie - lebte, würde er nun, wann immer sie sich nach ihm umsah, in ihrer Nähe sein.
     
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