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Wer den Tod begruesst

Wer den Tod begruesst

Titel: Wer den Tod begruesst
Autoren: Cindy Gerard
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    Sogar mitten in den Menschenmassen, die West Palm Beach in Florida bevölkerten, fand Nolan Garrett hundert Orte, um allein zu sein: in einem rappelvollen Delikatessen-Imbiss an der Ecke, in dem sonntäglichen Touristenstrom am Hafen oder wenn er in seinem Oldtimer Mustang über die ausgestorbenen mitternächtlichen Straßen brauste. Auch heute Abend, in dieser schäbigen Bar, wo sinnliche Latinorhythmen dröhnten, das Bier in Strömen floss und Rauch wie Nebelschwaden in der Luft hing, ließ er keinen Zweifel aufkommen, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.
    Mit einem scharfen Klick verteilte ein Queue ein Dutzend Billardkugeln über den abgewetzten, grünen Filztisch. Nolan blendete alles aus: das Spiel, die Musik, das johlende Gelächter, alles unterlegt mit Straßengeräuschen. Auch den schalen Gestank von verschüttetem Bier, als seine Finger das Glas Scotch direkt vor ihm auf dem zerkratzten Tisch umklammerten.
    Zurückgelehnt in seinen Stuhl, übersah er die unverhohlene Einladung einer langbeinigen Blondine mit hungrigen Augen und schwarzem Lederrock, der knapp ihre Scham bedeckte. Ihre Barbiebrüste, eingeschnürt in spärliche schwarze Spitze unter einer durchsichtigen weißen Bluse, presste sie aufreizend gegen seine Schulter. Mit der Zunge fuhr sie sich auffordernd über die geöffneten, kirschroten Lippen, und das Lächeln forderte ihn unmissverständlich auf: Treib es mit mir.
    Stattdessen vertrieb er sie mit einem lang anhaltenden, kalten Blick. Daraufhin knipste sie nicht nur ihr strahlendes Lächeln umgehend aus, sondern fuhr erschrocken zurück und eilte zu der anderen Seite des Raumes, um ihr Glück dort zu versuchen. Was er sich selbst schon im Schnaps nicht zu finden gestattete, würde er so sicher wie die Hölle bei ihr erst recht nicht finden – egal wie deutlich sie klar gemacht hatte, dass sie nicht nur billig war, sondern auch oft kommen würde, blindes, betäubendes Vergessen garantiert, volle Dröhnung.
    Wenn er das Vergessen suchte, wäre der Tisch übersät mit einem Dutzend leerer Schnapsgläser. So jedoch starrte er in das eine volle Glas Scotch, stellte sich den beruhigenden Geschmack auf der Zunge vor, das willkommene Brennen, wenn er die Kehle hinunter in den Magen glitt.
    Er seufzte bedauernd, ließ das Glas los und konzentrierte sich auf den großen Fernseher, der über der gerammelt vollen Bar hing. Es waren nicht die Abendnachrichten, die seine grüblerische Aufmerksamkeit auf sich zogen; es war die Frau, die sie moderierte.
    Jillian Kincaid.
    Sie war die einzige und vergötterte Tochter des Medienmoguls Darin Kincaid; sie war echte Palm-Beach-Aristokratie und die Antwort des Regionalfernsehens auf Diane Sawyer. Und sogar in der Rolle der Journalistin, die sie absolut perfekt spielte in ihrem Designerkostüm, das wahrscheinlich so viel wie ein Putsch in einem kleineren Dritte-Welt-Land kostete, war sie Gegenstand der erotischen Fantasien eines jedes heterosexuellen Mannes.
    Ihr Gesicht war ihm durch das Fernsehen bestens bekannt. Er kannte ihr langes, rotbraunes, üppiges Haar, kannte die verschiedenen Schattierungen ihrer klaren, hellen Augen, die von Seegrün zu Waldgrün wechseln konnten, so wie auch der Atlantik die Farbe bei bewölktem oder sonnigem Himmel veränderte. Er kannte ihre vollen Lippen, die manchmal schonungslose Wahrheiten aussprachen. Häufig verlasen diese Lippen Texte, bei denen starke Männer zusammenzuckten. Regelmäßig schaffte sie es, dass Männer mit einer Schwäche für naive Debütantinnen davon träumten, wie sich diese Lippen mit etwas völlig anderem beschäftigten, etwas, was sich nicht für höfliche Konversation bei Tisch eignete.
    Bis heute Morgen war alles, was er über Jillian Kincaid wusste, auf die Medien beschränkt gewesen. Das war auch in Ordnung. Er hatte gar nicht mehr über sie wissen wollen. Das dicke Dossier, das zusammen mit der Pistole in seinem Handschuhfach lag, hatte das Bild allerdings dreidimensional farbig ausgemalt.
    Und jetzt spielte es keine Rolle mehr, was er hatte wissen wollen oder nicht.
    Mit einem schweren, müden, resignierten Seufzer stand er auf, fischte seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und warf einige Scheine auf den Tisch. Nach einem letzten Blick auf ihren unglaublichen Mund ging er zur Tür.
    In weniger als einer Stunde würde er mit geladener und gesicherter Beretta in Jillian Kincaids teure Penthouse-Wohnung im City Place eindringen. Und dann würde er sich wünschen, seinen Scotch
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