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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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EINS
    Seit Dienstag, dem 4. Januar 2011, müsste ich tot sein. Und doch bin ich hier, bei mir, in diesem Haus, das mir allmählich immer fremder wird. Ich sitze allein am Fenster und denke an unendlich viele Einzelheiten zurück, an all jene kleinen Dinge, die der Zufall sorgfältig zusammengetragen hat und dank derer ich an jenem Tag überlebt habe. Wir waren zu fünft in der Kabine. Ich bin der einzige Überlebende.
    Der Unfall ereignete sich Punkt 13:12 Uhr. Durch den Aufprall ist meine Uhr stehen geblieben. Seitdem ich das Krankenhaus verlassen habe, trage ich sie an meinem rechten Handgelenk. Stumm begleitet sie mich überall hin, und wenn zuweilen das Ziffernblatt unter meinem Hemdärmel hervorschaut, erinnern mich der stehen gebliebene Oszillator, die erstarrte Unruh und der eingefrorene Sekundenzeiger daran, wie spät es wirklich ist und wohl in jeder Minute bleiben wird, bis an mein Lebensende.
    Doch bevor ich von diesem 4. Januar erzähle, muss ich auf ein Ereignis zu sprechen kommen, das sich am Abend des 3. ereignet hat und mich seitdem verfolgt wie ein Schatten, der nicht zu mir gehört.
    An jenem Abend stand ich in der Küche, kochte Nudeln mit Pesto und beobachtete, wie der Garten allmählich zuschneiteund sich auf dem Fensterbrett eine watteartige weiße Schicht bildete. Aus dem Fernseher schallten Nachrichten, die sich in den duftenden Basilikumschwaden verloren. Da wurde meine Aufmerksamkeit auf die Bilder einer ungewöhnlichen Reportage gelenkt. Männer in weißen Anzügen, die Schutzhandschuhe trugen und deren Gesichter mit einer Gasmaske bedeckt waren, sammelten in den Straßen und auf den Häuserdächern einer Ortschaft tote Vögel auf. Mit Greifzangen hoben diese Totengräber die kleinen Kadaver auf, höchst vorsichtig, als würden sie mit giftigen Stoffen hantieren, und warfen sie mit spitzen Fingern in schwarze Plastiksäcke. Die Szene spielte sich in Beebe, Arkansas, ab, einem Ort mit fünftausendsechshundert Einwohnern. Über fünftausend herabgestürzte Vögel wurden gefunden. Fast einer pro Einwohner. Die Katastrophe hatte sich nachts ereignet. Die Leute hatten seltsame Geräusche gehört, ein Knallen auf den Dächern, als würde jemand Steine auf die Dachziegel werfen. Einige waren vor die Tür getreten und hatten die vom Himmel gefallenen Vögel entdeckt: Rotschulterstärlinge.
    Am nächsten Morgen lagen überall tote Vögel. Und die Einwohner, die verstört zwischen den aufgereihten Kadavern umhergingen, wussten nicht, was sie sagen oder denken sollten. Es war ein lähmender, schmerzhafter Anblick, er erinnerte an Magnolia, den Film von Paul Thomas Anderson, in dem ein Krötenregen auf Los Angeles niederprasselt – gewiss in Anspielung auf eine der sieben ägyptischen Plagen, einer jener närrischen Strafen Gottes. Aber diesmal gab es weit und breit kein Froschtier und auch keine sündige Tat, die man Beebe, Arkansas in jener Silvesternacht hätte zum Vorwurf machen können. Die Experten vor Ort mutmaßten, dass diefünftausend Rotschulterstärlinge aufgrund eines emotionalen Schocks umgekommen waren, der durch das gezündete Feuerwerk verursacht worden wäre. Bei der Fortsetzung der Geschichte kamen sie jedoch in Erklärungsnot. Der Journalist berichtete, man habe am selben Tag, nur knapp hundert Kilometer von Beebe entfernt, hunderttausend tote Fische in den Gewässern des Arkansas treiben sehen. Auch sie gehörten alle ein und derselben Spezies an: dem Roten Trommler.
    Die Bewohner des Ortes warfen sich verstörte Blicke zu, sie gingen die Hauptstraße auf und ab, stupsten hin und wieder mit der Fußspitze gegen eines der toten Tiere und hoben den Blick gen Himmel, als erhofften sie sich von dort eine wundersame Erklärung für all die toten Kreaturen, die vom Himmel gefallen waren oder die der Fluss angeschwemmt hatte.
    Da trat Anna in die Küche und sah, wie ich gebannt vor dem Bildschirm saß, diese aus den Fugen geratene Welt betrachtete, Vogelleichen zählte und das Federkleid der Tiere untersuchte, auf der Suche nach einem Grund für das, was sich ereignet hatte und wahrscheinlich niemals einen Sinn ergäbe. Außer vielleicht für mich. Denn die Bilder dieses schicksalhaften Herabstürzens deuteten mit unschuldig-prophetischer Kraft darauf hin, was sich am nächsten Tag ereignen sollte.
    »Was machst du da?«
    Als wäre ich bei etwas Verbotenem ertappt worden, zuckte ich stumm mit den Achseln und kehrte zurück an meinen Nudeltopf. Ich verspürte nicht die geringste Lust,
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