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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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aufs Haar, sondern waren obendrein der männliche Klon ihrer Mutter. Diese Tatsache sollte eine unerwartete Wirkung auf mich haben: Ich fühlte mich ausgeschlossen, ins Abseits gedrängt, um meine Vaterrolle betrogen. In dieser neuen Familie, das spürte ich in jedem Augenblick, gab es auf der einen Seite die Jungs und ihre Mutter, die Kellers, und auf der anderen mich, ein zugelassenes Faktotum, ein Genlieferant mit Führerschein, um die Personenbeförderung zu erleichtern. Sicherlich haben meine Söhne schnell begriffen, dass ihre Mutter, eine High Potential und Expertin auf dem Gebiet der strategischen Entscheidungen, der einzig akzeptable Gesprächspartner in diesem Haus war. Sie erkannten sich in ihr wieder und sie sich in ihnen.
    Nach der Geburt der Kinder bekam meine Frau bei Motorola Halbleiter in Toulouse einen angemessenen Posten. Und ich, da ich keinen Abschluss hatte, hangelte mich unterdessen bei der Telekom von einem Job zum anderen; anfangs arbeitete ich im Kundendienst, dann war ich für die Bereitstellungder Anschlüsse zuständig. Bis zu unserem Eintreffen war der Kunde ein hilfloses Wesen, ganz auf sich allein gestellt und von allem abgeschnitten – doch sobald unsere Aufgabe erledigt war, überkam ihn ein Gefühl der Dankbarkeit, nun ein achtbarer Kunde zu sein, der dank eines kleinen Kabelendes endlich mit der Welt verbunden, oder genauer, an sie gebunden war. Tagsüber beschäftigte ich mich also mit Dreileiterkabeln. Und nachts komponierte ich Jingles für regionale Rundfunkstationen und Werbesender. Ich hatte mir im Haus ein kleines Studio eingerichtet, das aus einem vierspurigen Tonband der Marke Revox und zwei Korg Analog-Rechnern bestand, die ich als Klangerzeuger verwendete. Nach wenigen Jahren hatte ich bereits über fünfzig Jingles an den Mann gebracht, wenn auch die meisten nur mittelmäßig waren. Eines wurde ein Jahr lang als Telefon-Warteschleife im nationalen Netz der P & T verwendet. Ich mochte diese entspannende Arbeit, bei der nichts auf dem Spiel stand und die es mir erlaubte, mein Gehalt aufzubessern. Doch meine Söhne interessierten sich nicht für meine kleine Soundwerkstatt, sie schenkten ihr ebenso viel Beachtung wie einer leeren Zollstation. Kein einziges Mal stellten sie mir die geringste Frage über den Sinn oder Unsinn meiner Arbeit. Und wenn ich ihnen am Telefon stolz die kleine Tonfolge vorspielte, die P & T mir gerade abgekauft hatte, reichten sie sich kurz den Hörer weiter und legten dann mit den Worten auf: »Es klingt wie immer.« An dem Tag spürte ich, dass es mir nie und nimmer vergönnt sein würde, meine Söhne zu lieben.
    Marie zu lieben war auch nicht einfach. Dabei war sie das Gegenteil eines gleichgültigen oder komplizierten Kindes. Sie strahlte immer, war zärtlich, interessierte sich für jedes kleinste Detail auf der Welt und war eine wahre Quelle des Glücks. Sie wirkte beruhigend auf mich und versprühte dieselben Lebensfunken, die ich manchmal in den Blicken ihrer Mutter gesehen hatte. Doch das alles wurde mir, aus unerklärlichen familiären Gründen, denen ich mich beugen musste, geraubt.
    Eine beschämende Geschichte, bei der es um Traumatisierungen, Misshandlungen und Jugendkonflikte zwischen Anna, ihrer Halbschwester, die ich nie kennengelernt habe, und der zweiten Frau ihres Vaters geht. Dieses Gefühlschaos, dieser weibliche Groll führte dazu, dass Anna eines Tages den Wunsch äußerte, unsere Familien sollten fortan hermetisch voneinander getrennt leben. Die Zwillinge würden Marie nicht mehr zu Gesicht bekommen – und man würde sie auch nicht mehr im Haus empfangen. Anna wusste, wie sehr sie mich damit erschütterte, doch sie blieb unnachgiebig. Es stand mir jedoch frei, meine Tochter so oft zu treffen, wie ich wollte, solange diese Treffen außerhalb unserer vier Wände und in Abwesenheit unserer Söhne stattfanden. Im Klartext sollte meine Vergangenheit mit Gladys, und sei es auch nur in der zarten Verkörperung unserer Tochter, nie wieder die Schwelle unserer Tür überschreiten. Ich erinnere mich noch gut, wie mir dieses Ultimatum schlichtweg den Atem raubte.
    »So etwas kannst du nicht von mir verlangen.«
    »Doch, sehr wohl. Und ich lege größten Wert darauf, dass diese Anweisung strikt befolgt wird.«
    »Aber das ist doch Irrsinn. Was haben Marie und Gladys mit der Vergangenheit deiner Familie zu tun?«
    »Gladys hat nichts damit zu tun. Ich möchte nur nicht ein zweites Mal durchmachen, was ich als Kind erlebt habe. Ich
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