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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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ihn oft für einen Deutschen hielt. Dank seiner Kenntnisse im Bereich der Metallverarbeitung fand er schnell einen Posten in einem Subunternehmen des Flugzeugbauers Latécoère. Später wurde er bei Sud Aviation, der heutigen Aérospatiale, als Werkstattleiter eingestellt, wo er Bauteile für die Caravelle fertigte – ein von ihm hochgradig verehrtes Flugzeug –, ja sogar für die Concorde, über die er jedoch nie ein gutes Wort verlor. Er gehörte zu den wenigen Angestellten, die dieses Überschallflugzeug regelrecht verachteten, weil es seiner Ansicht nach hässlich, laut und vor allem zu kompliziert war. In Fragen der Luftfahrttechnik vertrat mein Vater eine radikale Theorie, die auf seiner Erfahrung im Schiffbau gründete: »Das Bessere ist der Feind des Guten«, pflegte er stets zu sagen und fügte hinzu: »Bei dieser auf- und absteigenden Nase, diesemRumpf, der sich bei hoher Geschwindigkeit wie ein Kaugummi auseinanderzieht, und all dem anderen technischen Schnickschnack gewinnt man den Eindruck, dass dieses Flugzeug in erster Linie gebaut wurde, um Ingenieuren eine Freude zu machen, aber ganz gewiss nicht, um Passagiere zu befördern.«
    Da sich Bastiaan Sneijder selbst in der Firma zu solch lästerlichen Bemerkungen hinreißen ließ, erhielt er von seinen Vorgesetzten lange Zeit schlechte Beurteilungen und wurde von den Gewerkschaften öffentlich kritisiert. Bei diesen heiklen Angelegenheiten, wie übrigens auch in allen anderen Bereichen, stand ihm jedoch Maria Landes, meine Mutter, die von den Leuten des Viertels respektvoll Frau Doktor genannt wurde, mit Rat und Tat zur Seite.
    Mit achtzehn war die Tochter von Landwirten, die weder Geld noch Beziehungen hatte, nach Toulouse gekommen, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Damals wurde sie als eine Anomalie der Gesellschaft angesehen, als eine schamlose Provokation der unerschütterlichen Ordnung in einer Fakultät, wo der Beruf des Arztes seit Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nahm. Nie verlor meine Mutter auch nur ein Wort über die Verachtung und Missbilligung, die ihr während ihres Studiums entgegengeschlagen war. Und ebenso wenig darüber, wie sie es finanziert hatte. Es war, als hätte sie die Erinnerung an diese Jahre in einer Art Schatztruhe verschlossen, deren Schlüssel sie in einen tiefen Fluss geworfen hatte. So wurde sie selbst zur Gefangenen ihrer Erinnerungen, von denen sie sich nie befreien konnte und deren schwere und erstickende Last sie bis ans Ende ihrer Tage mit sich trug.
    Dass Maria Landes eines Tages meinem Vater begegnete, war nur folgerichtig, sofern man den Zufall als eine Macht versteht, die aufmerksam und wohlwollend in unser Schicksal eingreift. Die Geschichte ist ganz einfach: Bastiaan Sneijder, der es sich als guter Holländer nicht nehmen ließ, alle Wege stets mit dem Fahrrad zurückzulegen, wurde eines Tages von einem Auto angefahren und in die Notaufnahme des Krankenhauses Purpan gebracht, wo meine Mutter seit jeher auf ihn gewartet hatte. Sie nähte seine Wunden, setzte seinen Oberarmknochen wieder zusammen und fand Gefallen an diesem niederländischen Patienten, der wie ein Bajuware klang; im Jahr darauf heiratete sie ihn, eröffnete kurze Zeit später ihre Praxis in unserer Wohnung und hieß fortan für uns und das gesamte Viertel der Colombette nur noch Frau Doktor.
    Mein Vater hat mir oft erzählt, wie gerührt er an jenem Tag war, als er für seine Frau das Messingschild am Säuleneingang anbrachte: »Maria Sneijder, Allgemeinmedizin, Sprechstunde von 14:00 bis 19:00 Uhr.«
    Bei diesen beiden bescheidenen, herzensguten und klugen Menschen wuchs ich also auf – in einer sehr stillen Wohnung, der nur das Kommen und Gehen der Patienten ein wenig Leben einhauchte. So ohne Geschwister fühlte ich mich ein wenig wie eine Waise, zumal mein einziger Zimmergenosse ein Prachtfink war, der in seinem Käfig vor lauter Langeweile regelmäßig einging und den mein Vater unermüdlich ersetzte, als sei nichts dabei.
    Es kommt mir manchmal so vor, als hätte meine Kindheit Jahrhunderte gedauert. Die gleichförmig faden Tage zogen in süßer Trägheit vorbei. Ich könnte sagen, dass ich mich an jeden einzelnen erinnere. An das Klopfen der gusseisernenHeizung im Winter, wenn die Gastherme ansprang. An das schüchterne Klingeln, das die Patienten ankündigte, und an das doppelte oder dreifache Klappen der Eingangstür, deren Holzrahmen verzogen war und die daher nicht mehr richtig
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