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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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lasse nicht zu, dass sich die Geschichte meines Vaters wiederholt.«
    »Was für eine Geschichte? Es gibt keine Geschichte. Marie kommt uns am Wochenende besuchen, sie spielt mit ihren Brüdern und kehrt anschließend zurück zu ihrer Mutter. Das bereitet doch keinem ein Problem.«
    »Und ob.«
    »Herrgott noch mal, was denn für eins?«
    »Ich will und kann nicht darüber sprechen. Basta. Ich fühle mich nicht in der Lage, noch einmal über all das zu sprechen. Ebenso wenig wie über meinen Vater, meine Schwiegermutter oder meine Halbschwester.«
    »Du willst nicht, dass Marie herkommt.«
    »Ganz genau.«
    »Ich hoffe, du weißt, was du da sagst. Ist dir klar, dass das, worum du mich bittest, unmenschlich, idiotisch und völlig sinnlos ist.«
    »Ich weiß, aber es ist mir lieber so.«
    So kam es, dass ich gut zwanzig Jahre lang an jedem Freitagabend das Haus verließ, um meine Tochter bei Gladys abzuholen und das Wochenende mit ihr bei meinen Eltern zu verbringen. Dasselbe galt für Weihnachten, für manche Ferien und die Geburtstage. Während ich dies schreibe, werden mir die Absurdität und der Aberwitz dieser Situation sowie der Abgrund, der zwischen mir und Anna aufgeklafft ist, in ihrem ganzen Ausmaß bewusst. Ich habe oft daran gedacht,einfach abzuhauen und mir ein anderes Leben aufzubauen. Das wäre zwar bestimmt genauso mittelmäßig gewesen wie dieses hier, aber wenigstens hätte ich es mit eigenen Händen erschaffen – ein Leben, in dem meine Tochter und ich es nicht nötig gehabt hätten, uns heimlich zu treffen. Aber einige vorgeschobene Gründe und vor allem meine Feigheit, dieses erbärmliche Übel, ließen mich davor zurückschrecken, und so wurde mir klar, wie unglaublich leicht wir uns in inakzeptable Situationen fügen. Und jeder spielte seine Rolle. Anna verschanzte sich hinter ihrer Arbeit und ihren Zwillingen und tat, als sähe sie nicht, was für ein grausiges Drama sie uns aufzwang. Hugo und Nicolas ergriffen nicht etwa Partei für ihre Schwester, sondern hüllten sich in schuldbewusstes Schweigen und senkten den Blick, als würde sie das alles nichts angehen. Gladys war angesichts von so viel boshafter Dummheit einfach nur empört und verfluchte Anna hundertmal, bevor sie beim dritten Glas allmählich vergaß, dass sie überhaupt existierte. Meine Eltern, deren Haus gegen ihren Willen in ein Bed & Breakfast verwandelt wurde, hielten sich mit Verurteilungen zurück und waren bemüht, diesen Exilwochenenden den Anschein eines angenehmen Familienrituals zu verleihen. Und was meine Wenigkeit betrifft, so weiß ich seit damals, was von mir zu halten ist, aber ich vermeide, so gut es geht, mir über das Thema den Kopf zu zerbrechen.
    So lebten wir vor uns hin, eine auseinandergerissene Familie, Festlandfranzosen mit ihren Leasingautos, auf den Rolltreppen des Fortschritts – ein paar Gesellschaftsstufen hinauf und dann wieder hinunter; wir zehrten die Lebensversicherung unserer Eltern auf, nachdem wir sie zu Grabe getragenhatten, und sahen zu, wie unsere Kinder heranwuchsen und die Jahre davoneilten, wie eine Herde Kühe, die dem Zug so lange nachblickt, bis er vorübergefahren ist.
    Anna und ich zogen 2004 von Toulouse nach Quebec. Ein einzigartiges Angebot, das, wie meine Frau mir erklärte, man einfach nicht ausschlagen konnte. Zu dem Zeitpunkt waren die Zwillinge fünfundzwanzig, Marie war vier Jahre älter, meine Eltern waren tot, und ich hatte nur einen kleinen Angestelltenjob und ein paar Jingles in die Waagschale zu werfen. Also zogen wir nach Montreal, ohne die Kinder, die bereits damit beschäftigt waren, ihr eigenes Leben zu entwerfen.
    Ein hübsches Haus mit hellem Parkett, weiß lackierten Türen und Fensterrahmen sowie drei Schlaf- und einem Arbeitszimmer im ersten Stock, in der Avenue des Sorbiers, gleich am Parc Maisonneuve mit dem Botanischen Garten und dem Olympiastadium. Dort leben wir. In einem nicht allzu schicken Viertel, recht weit entfernt vom Stadtzentrum, doch bietet es mir die Gelegenheit, nach nur wenigen Schritten in dem schönsten japanischen Garten des Landes spazieren zu gehen. Ich gehe oft dorthin, verbringe gern meine Zeit darin, selbst wenn es schneit oder sehr kalt ist.
    Ehrlich gesagt, habe ich mich nie mit dem Winter hier abfinden können, und auch nicht mit der Kürze der anderen Jahreszeiten. Seit sechs Jahren versuche ich nun, mich an die vielen Schneevarianten und an das Familienklima zu gewöhnen, das mir manchmal ebenso frostig erscheint wie das
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