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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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erstarrten See gelegen war, hatte ich ausgesucht. Marie hatte die Reise in Begleitung einer jungen Frau und eines Pärchens angetreten, mit denen sie die Zahnarztpraxis teilte. Dem Beispiel ihrer Großmutter folgend, hatte sich meine Tochter für eine Karriere in der Medizin entschieden und sich dann, zu meiner großen Enttäuschung, auf Zahnmedizin spezialisiert – ein Berufsstand, mit dem ich seit Langem auf Kriegsfuß stehe. Zur Erklärung muss ich hinzufügen, dass ich zu einer Generation gehöre, deren Zähne einer wahren Zahnausreißer-Mafia,einem Folterverein anvertraut wurden, der mit grobschlächtigen Instrumenten und Betäubungsmitteln hantierte, die ursprünglich von Tierärzten entwickelt worden waren. Wenn man Glück hatte, bekam man von diesen Leuten nur eine Bleimine in den Mund verlegt, doch hatte man Pech, was häufig vorkam, kassierten die Herrschaften ihre Zahnziehprämie und ließen einem zwischen zwei Terminen gerade genug Zeit zur Wundheilung. Zugegeben, die Dinge haben sich inzwischen geändert und die Zahnärzte haben sich in menschliche Wesen verwandelt wie du und ich. Die wenigen Male, da ich mich von Marie habe behandeln lassen, ist alles glatt gelaufen. Ich habe mich in die Hände ihres Kollegen begeben, eines hochgewachsenen schlanken Iren, der viel Charme besaß und von dem ich seit Langem vermutete, er könne ihr Verlobter sein. Als ich meine Tochter eines Tages offen danach fragte – das ist inzwischen sechs Jahre her –, brach sie jedoch in lautes Gelächter aus.
    »Victor? Machst du Witze?«
    »Warum, er ist doch ein netter Kerl.«
    »Als Kollege ist er perfekt. Aber das ist auch alles.«
    »Komisch, ich hätte schwören können, dass ihr zusammen seid. So wie er bei der Behandlung über dich gesprochen hat, seine Art, all das …«
    »Ach, Papa, das bildest du dir nur ein.«
    »Mag sein, aber du kannst mich nicht davon abbringen zu denken, dass der Kerl etwas für dich empfindet.«
    »Papa, ich bin lesbisch.«
    »Du bist was?«
    »Lesbisch.«
    »Seit wann?«
    »Seit immer. Alle Welt weiß das. Und ich war überzeugt, du wüsstest es auch, du hättest es bemerkt.«
    »Es tut mir leid. Verzeih mir diese lächerliche Unterhaltung, ich wollte nicht indiskret sein. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es diese Form annehmen würde.«
    »Ist es dir unangenehm?«
    »Nein. Wirklich. Gar nicht. Ich bin bloß überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
    »Gut, nun weißt du es. Deine Tochter ist Zahnärztin und Lesbe.«
    Heute kommt es mir vor, als läge dieses Gespräch Jahrhunderte zurück. Aber ich nehme es mir noch heute übel, dass ich mich Marie gegenüber so linkisch und ungeschickt verhalten habe. Ich dachte bei mir, dass ich hätte aufmerksamer sein müssen. Wenn »alle Welt es wusste«, wäre es das Mindeste gewesen, dass auch ich es wusste. Ein Vater sollte die Entscheidungen seiner Kinder begleiten. Selbstverständlich trifft diese Bemerkung nicht auf die Zwillinge, meine Söhne, zu und auch nicht auf ihre sexuelle Orientierung, deren unerforschliche Wege ich mir nicht einmal vorzustellen wage und die mir im Übrigen auch gänzlich egal ist. Das Einzige, was ich mit einiger Sicherheit über sie sagen kann, ist, dass beide kurz vor ihrem dreißigsten Lebensjahr Nachwuchs gezeugt haben, als hätten sich beide im Voraus über den Zeitpunkt ihrer Fortpflanzung verständigt. Über meine Enkel werde ich kein Wort verlieren – aufgrund ihrer Unschuld und ihres geringen Alters genießen sie völlige Immunität. Doch bei ihren Müttern, die beide einer Fernsehserie aus den sechziger Jahren entstiegen sein könnten, bin ich außer Stande, dieselbe Milde walten zu lassen. Diese Frauen wurden geboren,um ihr Leben im Morgenmantel vor dem Badezimmerspiegel zu verbringen, sich die Fingernägel zu lackieren, Martini zu schlürfen und große Kombis mit holzfurnierten Türen zu fahren. Wie oft habe ich nicht verwundert festgestellt, dass die Zwillinge immer zusammengeblieben sind, stets alles, aber auch wirklich alles gemeinsam gemacht haben. Sie sind auf dieselbe Schule gegangen, haben dasselbe studiert, haben denselben Typ Frau gewählt, haben ihre Kinder gleich erzogen, denselben dämlichen Beruf gewählt und mit derselben Charakterschwäche ihre einzige Schwester bis zum Schluss ignoriert.
    In einer Straße von Toulouse gibt es nun ein weiteres Messingschild mit dem Namen Sneijder. In diesen hochanständigen Räumen wird nichts behandelt oder kuriert, was in irgendeiner Weise nennenswert
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