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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Festung, vor jeglicher Gefühlsregung geschützt. Es gab einen Moment, da glaubte ich noch, Gladys’ Tod würde sie von ihrem Urteilabrücken lassen. Doch weit gefehlt. So ist meine Tochter gestorben, ohne meiner Frau je begegnet zu sein, ohne je ein Wort mit ihr gewechselt, ja ohne auch nur erfahren zu haben, warum sie ihr und ihren beiden Brüdern ein normales Familienleben verweigerte, auf das sie wie alle anderen Kinder ein Anrecht gehabt hätte. Hundert Mal hat meine Tochter mir diese Frage gestellt. Und ich habe ihr nichts anderes bieten können, als ausweichende Antworten und das vage Versprechen, mit der Zeit würden sich die Dinge schon richten. Als Kind hat mich Marie häufig gebeten, ihr von ihren beiden jüngeren Brüdern zu erzählen, sie zu beschreiben. Und obwohl ich mit ihnen unter einem Dach lebte, merkte ich damals schon, dass ich sie nicht kannte, nichts über ihr Leben wusste, völlig außer Stande war, sie zu beschreiben, geschweige denn auseinanderzuhalten. Im Grunde habe ich sie immer nur als eine Art genetischen Wurmfortsatz meiner Frau betrachtet.
    Im Alter von zwölf Jahren schrieb Marie an ihre Brüder einen langen Brief, den sie mir anvertraute. Ich übergab ihn Hugo, der den Umschlag wie ein totes Insekt anstarrte, bevor er ihn Nicolas reichte. Dieser gab ihn mir mit verstockter Miene zurück und behauptete dreist: »Wir kennen keine Marie.«
    Keiner dieser beiden Armleuchter besaß genügend Mut, Neugier oder Menschlichkeit, um dem Verbot der Mutter zu trotzen und sich mit ihrer unbekannten Schwester zu treffen, die ihnen zum Geburtstag einen Liebesbrief geschrieben hatte.
    Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich dies meinen Söhnen nie verzeihen, weder vergeben noch vergessen werde. Allesist mir gegenwärtig, lebendig wie am ersten Tag. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, sie und ihre Mutter, spüre ich, wie die Vergangenheit in mir gärt, in meinem Bauch, in meiner Brust. Dann bin ich wie ein wildes Tier, das in seiner intakten Erinnerung eingesperrt ist, ein Tier, das am liebsten mit einem Satz aus dem Käfig herausspringen und diesen Unholden die Klauen ins Fleisch jagen würde.
    Da ich fünf Tage nach Maries Tod noch immer im Koma lag, wandten sich die Bestatter an Anna, um zu erfahren, was mit dem Leichnam meiner Tochter passieren sollte, ob die sterblichen Überreste beerdigt, nach Frankreich überführt oder verbrannt werden sollten. Meine Frau entschied sich für die letzte Möglichkeit.
    Seitdem ich das weiß, und so wie ich Anna kenne, kann ich nicht umhin zu denken, dass sie meine Tochter aus denselben Gründen einäschern ließ, aus denen man ein kompromittierendes Beweisstück ins Feuer wirft.
    Jede Spur auslöschen, den Platz frei machen. Doch mein Gedächtnis ist feuerbeständig.
    Die Asche meiner Tochter hat keinen Geruch. Sie ist ebenso leicht wie die meiner Eltern.
    Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, führte mich mein erster Spaziergang zum Kolumbarium, wo ich Maries Urne abholen wollte. Ich füllte die nötigen Formulare aus und kam mit meiner Tochter unterm Arm nach Hause. Einen Teil des Weges legte ich zu Fuß zurück, den Rest mit dem Taxi, da mir die Beine noch wehtaten. Als ich zu Hause die Tür hinter mir schloss, wurde mir bewusst, wie einsam ich von nun an wäre. Die ganze Kindheit meiner Tochter brach wie eine Flut über mich herein, ich hörte ihre Stimme, sah ihrKindergesicht, ihre Hand griff nach meiner, und so fing ich, auf der Treppe sitzend, an zu weinen.
    Ich erinnere mich sehr gut, wie der vergangene 4. Januar begann. Beim Aufstehen schaltete ich als Erstes das Radio an, um die Nachrichten zu hören und zu erfahren, was es mit diesen Scharen von toten Vögeln und Fischen auf sich hatte. Die Neuigkeit hatte bereits an Attraktivität eingebüßt, sodass die Journalisten wenig Hintergrundinformationen gaben und lediglich erwähnten, dass Tausende weiterer Rotschulterstärlinge vom Himmel gefallen waren, diesmal in Louisiana. Man merkte, dass diese weitere Fuhre, kaum dass sie gestorben, auch schon vergessen, abgeheftet, archiviert war.
    Die kleine Wetterstation in unserem Haus zeigte eine Außentemperatur von -7° C an, lustlos wirbelten vereinzelt Schneeflocken durch die Luft.
    Marie war am 29. Dezember nach Montreal gekommen, um in einem Ferienhaus am Cloutiersee in der Nähe von Saint-Alphonse-Rodriguez mit einigen Freunden Silvester zu feiern. Dieses hübsche, von Bäumen umgebene Chalet, das mit Schnee überpudert und unmittelbar an einem nun
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