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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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wäre. Vielmehr werden in diesem Büro recht erbärmliche Dinge erzählt und ausgeheckt, immer neue Abrechnungsmethoden angesichts sich wandelnder Gesetzesparagraphen entwickelt, die ebenso undurchschaubar sind wie die Stundensätze jener, die sich mit den Gesetzen befassen und sie nach ihren Vorstellungen zurechtbiegen. Bei Sneijder & Sneijder, Steueranwälte, wird kein Fall, kein Kunde zurückgewiesen, hier kümmert man sich um jede Angelegenheit. Und am Ende gewinnen immer die Zwillinge.
    Vor sechs Jahren erfuhr ich also aufgrund meiner Ungeschicklichkeit, dass Marie lesbisch war. Natürlich änderte das nichts zwischen uns, nur dass ich von dem Tag an bei jedem unserer Treffen die verschiedenen Freundinnen meiner Tochter in einem anderen Licht betrachtete. In ihren stets neu zusammengewürfelten Freundesgruppen versuchte ich herauszufinden, welche der jungen Frauen wohl ihre Geliebte seinmochte. Ich habe darauf nie eine Antwort erhalten, wobei ich natürlich auch nie gefragt habe. Doch als Marie und ihre Freundinnen am vergangenen 29. Dezember am Flughafen Pierre Elliott Trudeau de Dorval landeten, war ich auf Anhieb überzeugt, dass die junge Frau, die sie begleitete, meine Schwiegertochter war. Gemeinsam nahmen wir am Flughafen eine rasche Mahlzeit ein, dann brachen sie in ihrem Mietwagen, einen Monospace Dodge, der nach Reinigungsmitteln roch, nach Saint-Alphonse-Rodriguez auf, das etwa eine Stunde in östlicher Richtung vom Flughafen entfernt lag.
    Marie und ich hatten verabredet, dass wir uns nach den Feiertagen in Montreal treffen würden, um zwei gemeinsame Tage zu verbringen. In der Zwischenzeit genügte es mir zu wissen, dass meine Tochter nur eine Stunde von mir entfernt war. Noch nie hatte sie sich so nahe der Avenue des Sorbiers, dem »Pavillon der unendlichen Sanftmut« und dem »Steinernen Boot« aufgehalten.
    Zu Silvester rief Marie mich gegen Mitternacht an. Anna hob ab. Wortlos legte sie den Hörer zur Seite und sagte: »Für dich«.
    Ich unterhielt mich eine Weile mit meiner Tochter, dann schnappte ich mir die Autoschlüssel und fuhr mehrere Stunden durch die fiebrig-fröhliche, hell erleuchtete Stadt. Ich weiß noch, dass die Temperatur in dieser Nacht ungewöhnlich mild war und das Thermometer im Auto 4° C anzeigte.
    Am nächsten Morgen und an den folgenden Tagen bis zu Maries Rückkehr nach Montreal wechselte ich kein Wort mit meiner Frau, die sich ebenso in Schweigen hüllte. Vor dem Unfall waren die fast letzten an mich gerichteten Worte: »Für dich.«
    Am 4. traf Marie gegen zehn Uhr in der Stadt ein, und wir verabredeten uns in einem Café auf der Sherbrooke. Wir waren überglücklich, uns wiederzusehen, auch wenn ich diese Freude gewiss im Lichte der noch folgenden Ereignisse deute. Aber ich kann mich nicht erinnern, sie in der Vergangenheit je so intensiv verspürt zu haben, zumindest nicht unter ähnlich banalen Umständen.
    Marie erzählte, wie begeistert sie von ihrem Aufenthalt am See war und dass sie sogar erwog, im Sommer wiederzukommen, falls das Chalet frei wäre, denn Ende August sollte in Montreal ein Zahnärztekongress stattfinden. Zum ersten Mal führten wir ein sehr ernsthaftes Gespräch über ihren Beruf. Sie hielt mir einen kleinen Vortrag über Implantologie und prä-implantäre Chirurgie, von dem ich mir nicht viel gemerkt habe, außer dass Marie ihrer Mutter immer ähnlicher wurde, bis hin zu dem so charakteristischen Timbre ihrer Stimme.
    Gegen Mittag bat mich meine Tochter, sie zu einem Kollegen zu begleiten, dessen Praxis sich im achtundzwanzigsten Stock eines Hochhauses an der Saint-Antoine befand. Er wollte ihr einige Forschungsergebnisse für einen Universitätsprofessor in Toulouse mitgeben. Als wir die riesige Eingangshalle betraten, kam auch schon einer der sechs Aufzüge, die in allen Stockwerken des Hochhauses hielten.
    Gegen 13:10 Uhr verabschiedete sich Marie von ihrem Kollegen und holte mich im Warteraum ab. Dann gingen wir gemeinsam zu den Aufzügen. Bevor sich die Stahltüren öffneten, dachte ich noch, dass ich nie so deutlich wie jetzt den Wunsch verspürt hatte, alles stehen und liegen zu lassen: Anna, meine Arbeit, das Haus, dieses eisige Land, ja sogar denBotanischen Garten, um nach Süden zu fliegen, heimzukehren und wieder in der Nähe von Marie zu wohnen. Eine verschüttete Welt wollte ich ausgraben. Gladys vor meinem inneren Auge sehen, wie sie mit meinen Eltern ein Glas Wein trank, die Korg-Geräte und den alten Revox wieder anschließen,
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