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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Wetter.
    Bis zum 4. Januar dieses Jahres arbeitete ich in der Vertriebsabteilung der SAQ, Société des Alcools du Québec.Diese aus der Commission des Liqueurs du Québec hervorgegangene und in den zwanziger Jahren eingerichtete öffentliche Institution sollte damals, also zur Zeit der Prohibition, den Spirituosenvertrieb kontrollieren. Sie ist bis heute der einzige Vertrieb, der in Québec Wein und Schnaps verkaufen darf. Da ich mich recht gut mit den französischen Weinanbaugebieten auskenne, wurde mir die quasi hauswirtschaftliche Aufgabe übertragen, bei den sturköpfigen Winzern des Burgund, den ausgefuchsten Weinbauern des Bordelais, drei kooperativen Kooperativen des Languedoc und einigen geschickten »Panschern«, die sich auf die Verarbeitung von Weintrauben aus allen möglichen Regionen spezialisiert hatten, vorteilhafte Konditionen auszuhandeln. Dieser Job, den ich Annas einflussreichen Beziehungen verdankte, bot sich mir zu einem Zeitpunkt, da ich kurz davor stand, mich vor lauter Verzweiflung von der Nationalen Energiegesellschaft Hydro Québec als Stromableser einstellen zu lassen. Wie das Verwaltungsdokument unter dem Stichpunkt »Ihre Rolle« erläuterte, hätte meine Arbeit darin bestanden, »verschiedene Zählertypen mithilfe spezieller Geräte abzulesen, den Zustand der Zähler zu prüfen, Fälle von Stromdiebstahl aufzuspüren und anzuzeigen, Kundenfragen zu beantworten und sie, wenn nötig, an die entsprechende Abteilung zu verweisen«. Das Einzige, was ich mir beim Lesen dieser Notiz merken konnte, war folgender Einschub, jener kleine Nebengeschmack, der im Mund zurückbleibt, wenn alles andere bereits vergessen ist: »wenn nötig«. Ich stellte mir den Verfasser dieses Textes vor, der es sich beim Durchlesen des fertigen Textes nicht hatte verkneifen können, mit einem letzten Pinselstrich ein »wenn nötig« hinzuzufügen. Etwas weiter definierteer das »Profil« und das Portfolio, über das der Empfänger verfügen musste: »Einen Gymnasialabschluss, einen gültigen Führerschein der Klasse 5, die Fähigkeit, bei gutem wie bei schlechtem Wetter längere Entfernungen zu Fuß zurückzulegen, einen guten Orientierungssinn, Kundenfreundlichkeit, keine Angst vor Tieren, insbesondere nicht vor Hunden.« Offenbar stellte Hydro Québec, ähnlich wie Bell Canada, nur High Potentials ein, Ableser, die in der Lage waren, ihren Kunden selbst dann noch zu schmeicheln, wenn sich ihnen zahlreiche Tiere in den Weg gestellt hatten und sie stundenlang durch Eis und Kälte gelaufen waren, obwohl sie einen unentbehrlichen Führerschein der Klasse 5 in der Tasche hatten.
    Bis zu dem Unfall habe ich fünf Jahre lang, vor Hunden und schlechtem Wetter gefeit, jede günstige Gelegenheit genutzt, zugunsten der regionalen Steuern niedrige Preise für französische Weine aller Qualitätsstufen auszuhandeln. Heute Morgen habe ich mir aus Neugierde die monatliche Weinauswahl der SAQ-Experten angesehen: ein neuseeländischer Wein (Konrad Bunch), drei amerikanische (Chester Kidder, Lachini, Three Rivers), drei argentinische (Desierto Pampa, Mendozo, Piedra Negra), drei chilenische (Los Vascos, Vina Chocalan, Novas) und einen australischen (Gemtree). Wäre ich paranoid, hätte ich angesichts dieser Liste keinen Zweifel, dass die Leute der SAQ meinen Abschied gründlich gefeiert haben.

ZWEI
    Gerade bin ich vom Botanischen Garten heimgekehrt. So klirrend kalt war es heute, dass niemand draußen war, um diese herrliche Landschaftsarchitektur zu genießen. Erst bin ich ein wenig durch den chinesischen Garten geschlendert, vom »Hof des Frühlings« über den »Pavillon der unendlichen Sanftmut« bis zum »Steinernen Schiff«, und habe mich dann noch eine Weile im japanischen Garten aufgehalten, der von Ken Nakajima entworfen wurde. Diese Spaziergänge sind mir zur Gewohnheit geworden, sie sind für den Blick und den Geist wie eine sanfte, verstohlene Liebkosung.
    Anna ist bei ihrer Arbeit am anderen Ende der Stadt, und ich sitze allein in unserem Haus. Seit dem Unfall hat Marie endlich die Erlaubnis, sich hier aufzuhalten. Ihre Asche, die mir in einer Urne mit ihren Initialen übergeben wurde, steht in dem kleinen Raum im oberen Stock, der mir als Arbeitszimmer dient. Nun sind Marie und ich vereint. So viele Jahre hat das gebraucht. Ihr Tod hat gewissermaßen Ordnung in die Dinge gebracht. Aber mit welchem Zynismus.
    So ungeheuerlich es scheinen mag: Anna blieb sechsunddreißig Jahre lang unnachgiebig, eingemauert in ihre
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