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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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ein neues Leben beginnen, das endlich Hand und Fuß hätte. Dazu brauchte es nur ein kleines bisschen Würde und Mut.
    Vermutlich war es schon 13:12 Uhr, als sich die Türen des Fahrstuhls auseinanderschoben und wir die Kabine betraten. Es standen bereits drei Leute drin. Zwei Männer und eine Frau. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an ihre Gesichter, erst im Nachhinein erfuhr ich aus Zeitungsartikeln, wer sie waren, welche Berufe sie ausübten und wie sich ihre Familien zusammensetzten.
    Wir alle waren zur vereinbarten Zeit der Vorladung des Schicksals gefolgt: Andrea Teasdale, dreiundfünfzig Jahre, angestellt in der Personalabteilung von Holt Renfrew, verheiratet; Bassim Assah-Tyhiany, siebenundfünfzig Jahre, Werkstattleiter bei Lexus, verheiratet, zwei Kinder; Serge Paquette, zweiundvierzig Jahre, ehemaliger Hockeyspieler und Barbesitzer, geschieden, ein Kind; sowie Marie und Paul Sneijder, sechsunddreißig und sechzig Jahre, die um diese Zeit eigentlich nichts dort zu suchen hatten, sondern im Haus an der Avenue des Sorbiers hätten Mittag essen sollen, bevor sie zu einem Spaziergang durch den Botanischen Garten aufgebrochen wären.
    Jeden Tag durchlebe ich diesen Morgen, gehe hundert Mal dieselben Wege ab, presse die Stunden dieses 4. Januar durch das feinste Sieb, in der Hoffnung, noch irgendetwas zu entdecken:den Hinweis auf einen Fehler, auf den Hauch einer Chance, die wir missachtet hätten. Seit Monaten stelle ich Recherchen über Aufzüge an. Unter anderem habe ich herausgefunden, dass etwa alle einundzwanzig Sekunden einer der sechs Aufzüge dieses Hochhauses in dem Stockwerk hält, wo wir gestanden haben. Dieser Gedanke ist am schwersten zu ertragen: Fünf Leute aus den verschiedensten Teilen der Stadt und der Welt haben ihre Termine und das Tempo ihrer Schritte stillschweigend so perfekt aufeinander abgestimmt, dass sie an diesem Tag keine einundzwanzig Sekunden zu spät zu der wohl wichtigsten Verabredung ihres Lebens gekommen sind.
    Meine Tochter betrat den Fahrstuhl als Erste und machte einen Schritt zur Seite, um mir den Platz in der Mitte zu überlassen. Die anderen drei lehnten an der gegenüberliegenden Wand. Wir grüßten uns nicht und wechselten auch sonst kein Wort miteinander, so als wollten wir bis zum Schluss die Regeln des Anstands wahren, die unter Fremden üblich sind. Die Türen schlossen sich, und die Abwärtsfahrt begann, allerdings so abrupt, dass sich ein Gefühl der Leere in der Brust breitmachte. Kurz darauf ertönte ein lautes Krachen und der Aufzug raste noch schneller hinab. Jemand stieß einen Schrei aus. Ich wurde gegen eine Metallwand geschleudert, konnte mich jedoch am Handlauf festhalten. Mein Blick begegnete dem meiner Tochter, der weder Panik noch Angst verriet. Da blieb die Kabine mit einem Ruck stehen, gewiss durch die Bremsbacken gestoppt, und verharrte in der Position. Wir waren vermutlich zwei oder drei Etagen tiefer zum Stehen gekommen. Doch blieb uns nur eine kurze Ruhepause vergönnt. Kaum hatten wir uns wieder aufgerappelt, gab es eine heftigeExplosion. Die Deckenlampe erlosch, eine schwache Notbeleuchtung schaltete sich ein, wir hörten ein ohrenbetäubendes metallisches Kreischen; dann folgte der freie Fall.
    Wie in Beebe, Arkansas.
    Ich weiß schon, welche Einwände gleich kommen: Es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Fahrstuhl auf diese Weise abstürzt, schließlich ist jeder Aufzug mit einem sogenannten »Fallschirm« ausgestattet, einer unfehlbaren Sicherheitsvorrichtung, die die Kabine abbremst und blockiert. Für den Fall, dass eines der vier Tragseile reißt, wobei jedes Seil hundertfünfundzwanzig Prozent des gesamten Kabinengewichts halten kann, wird sie automatisch aktiviert. Das alles weiß ich. Und doch hat man festgestellt, dass die Aufhängung plötzlich riss, der »Fallschirm« sich nicht öffnete und wir mit ungeheurer Wucht gegen die Dämpfer im Schacht prallten. Die Fachleute waren sich einig, dass unsere Geschwindigkeit in dem Moment etwa zwanzig Meter pro Sekunde erreicht haben musste.
    Andrea, Bassim, Serge und Marie mussten aus einer Kabine befreit werden, die einem zusammengepressten Stück Blech glich. Sie konnten nur noch tot geborgen werden. Als man mich ins Royal Victoria Hospital brachte, lag ich im Koma. Keiner hat je begriffen, wie es mir gelungen war, dem Tod von der Schippe zu springen. Die Rettungskräfte hatten mich auf den anderen Körpern liegend gefunden, als hätten sich diese im letzten Moment
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