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Kalteis

Kalteis

Titel: Kalteis
Autoren: Andrea Maria Schenkel
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Aktennotiz zum Abschluss des Verfahrens Josef Kalteis Geheime Reichssache
     
    Eine Begnadigung des Verurteilten ist abzulehnen. Die Vollstreckung des Urteils ohne Verzug ist im Gefängnis Stadel heim durchzuführen. Eine öffentliche Bekanntmachung ist unerwünscht.
    Erläuterung: Zahlreiche Verbrechen dieser Art wurden seit Beginn der 30er Jahre aktenkundig. Solche Taten konn ten nur auf dem maro den Nährboden der Weimarer Repu blik gedeihen. Die Demokratie, ein Krebsgeschwür, eine Brutstätte asozialer Elemente. Aber dass diese Taten selbst nach der Machtergreifung nicht abnahmen und unsere treuen Volksgenossen weiter beunruhigen und verunsi chern, können wir nich t hinnehmen. Die deutsche Volks gemeinschaft ist gesund und soll auch weiterhin gesund bleiben. Volksschädlinge wie dieser sind deshalb aus ihr zu entfernen. Es kann nicht geduldet werden, dass jenes aso ziale Element jahrelang den Münchner Westen heimsuchen konnte und München, die Wiege der Bewegung, die Stadt, die unserem geliebten Füh rer so sehr am Herzen liegt, be sudelt.
    Da es sich bei dem Tä ter um einen Volksdeutschen, ei nen Arier, zudem noch Mitglied der NSDAP, handelt, sind eine umgehende Vollstreckung des Urteils und absolutes Stillschweigen erforder lich. Von Mitteilungen in Volks deutschen Presseorganen sowie dem Völkischen Beobachter ist abzusehen. Alle Berichte sowohl mündlicher als auch schriftlicher Art unter liegen aus diesem Grunde der Ge heimhaltung. Es ist jeder Schaden, der dem Ansehen der  Partei und der nationalsozialistischen Bewegung entstehen könnte, zu vermeiden. Das eingereichte Gnadengesuch wird abgewiesen. Eine Sicherheitsverwahrung und Umerziehung im KL Dachau ist abzulehnen.
    Heil Hitler!
    München, den 29. Oktober 1939
    gez ....
    *
    Er sitzt da. Auf der Pritsche, den Kopf in die Hände gestützt. Die Augen geschlossen, offen? Er weiß es nicht. Der Raum in fahles Licht getaucht, das vom Hof her durch das kleine, vergitterte Fenster hereinfällt.
    Er sitzt da, stundenlang sitzt er schon da. In immer der gleichen Haltung, die Hände gefaltet wie zum Gebet, das Gesicht zur Hälfte darin verborgen, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, bewegungslos. Die Zeit schwindet dahin. Es kommt ihm vor, als rinne sie durch seine Finger, an seinen Armen entlang, über die Beine hinab zum Boden. Ständig. Unaufhörlich. Und doch kann er sich trotz dieser Langsamkeit an nichts erinnern. Nicht an den Tag, die Nacht, die Stunde, die Minute ... Alles verschwimmt in diesem fahlen Licht, diesem endlosen Grau, als hätte auch er sich aufgelöst, als wäre sein Leben bereits verronnen.
    Nichts, nichts ist geblieben, ein endloser Raum aus Nichts, nur Leere.
    Selbst die Angst ist aus seinem Kopf, aus seinem Körper entwichen. Die Angst, die gestern noch greifbar war. Die langsam seinen Rücken entlang hoch bis in seinen Kopf kroch, Zentimeter für Zentimeter. Die seinen Körper, ihn ganz gefangen hielt. Tief in ihm lauernd, lähmte sie seine Gedanken und ergriff von jeder einzelnen Zelle seines Körpers, von seinem ganzen Ich Besitz. Selbst sie war im Laufe der Nacht dieser Leere gewichen. Hatte nicht standhalten können, sich nicht durchsetzen können gegen das Nichts, das ihn nun erfüllt, ausfüllt.
    Irgendwann in dieser Nacht öffnet jemand die Klappe der Zellentür. Er, das Geräusch hörend, wendet den Kopf nicht. Warum auch? Es bedeutet nichts mehr. Nichts bedeutet mehr etwas. Nichts.
    Als um sechs Uhr das Lich t in der Zelle wieder ange schaltet wird, bemerkt er es nicht, um ihn herum ist das fahle, graue Licht der Nacht geblieben. Den Kopf weiter in die Hände gestützt, bleibt er auf seiner Pritsche sitzen. Mit dem Nichts, mit der Leere, die schlimmer ist als die Angst.
    So sitzt er auch noch da, als gegen zehn vor sieben die beiden Männer die Zelle betreten.
    Sie sprechen mit ihm, als sie hereinkommen, aber was sie auch sagen, er versteht es nicht. Worte dringen nicht mehr durch diese Leere, durch dieses Nichts hindurch, das ihn umgibt. Ihn einhüllt, ihn fest im Griff hat.
    Er reagiert erst, als er die Berührung spürt, die Hand auf seiner Schulter. Weiß, dass es nun Zeit ist aufzustehen. Langsam, mechanisch erheb t er sich. Die Männer legen sei ne Hände auf den Rücken und er spürt die metallene Fes selung an seinen Handgelenken.
    Vier Schritte braucht er, um den Raum zu verlassen. Vier Schritte. Er zählt sie mit.
    Vor der Zellentür wartet bereits der Gefängnisgeistliche auf ihn.
    Ob er ihnen
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