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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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größte Sorgen um unser Kind und begriff im Verlauf unserer Dispute, dass unser gemeinsames Leben schon bald wieder zu Ende wäre. Als meine Mutter, die Frau Doktor, mir einige Tage nach der Geburt des Babys mitteilte, dass es sich bester Gesundheit erfreue und alle Untersuchungsergebnisse gut seien, waren meine Ängste plötzlich wie weggeblasen. Ich hatte eine Tochter. Sie war, gesund und munter, am selben Tag wie ich zur Welt gekommen. Ein kleines Wunder. Sie hieß Marie.
    Zwei Jahre später wurden Gladys und ich geschieden. Wir trennten uns einvernehmlich und ohne Streit; meine Frau rechnete es mir hoch an, dass ich während des Prozesses nie auf ihren Alkoholismus zu sprechen gekommen war, etwa damit man ihr das Sorgerecht für unsere Tochter entzöge. Wenn ich heute daran zurückdenke, insbesondere an all den Hass gegen Gladys, der sich die ganzen Jahre in mir angestaut hatte, weil sie das Leben unseres Kindes gefährdet hatte, finde ich es ausgesprochen grausam vom Schicksal, dass es fünfunddreißig Jahre später – nach dem Tod der Mutter – mir, einem vorbildlichen und stets nüchternen Mann, die ungeheuerliche Aufgabe übertragen hat, unser Kind in den Tod zu fahren.
    Manchmal fällt es mir schwer, es zuzugeben, aber trotz der vielen Jahre fehlt mir Gladys noch immer, besonders seit sie nicht mehr am Leben ist. So unerklärlich es scheinen mag, aber ihre unkonventionelle und zugleich stilsichere Art, durchs Leben zu gehen, ihre völlige Desillusioniertheit und Hoffnungslosigkeit und auch ihre Aufrichtigkeit haben mir gleichsam jenen Mut und jene Kraft gegeben, an denen es mir heute so oft mangelt. Anna, meine zweite Frau, stellt in mancherlei Hinsicht das Gegenteil der ersten dar. Es ist ihr nie gelungen, mich aufzuwühlen oder meinen Widerspruchsgeist zu wecken, wäre es auch nur gegen mich selbst. Vermutlich ist sie zu konventionell, womit ich sagen will, dass ihre Gedanken stets dem Zeitgeist entspringen, sie in ihrer Wandlungsfähigkeit immer mit der Mode geht und opportunistisch genug dem Mainstream folgt, diesem mächtigen und dunklen Strom, der sie nach Kanada fortgerissen hat und seitdem in dem Glauben belässt, sie bewege sich in einer Welt der High Potentials . Ich sage das ganz ohne Groll. Aber mein niemalsruhendes Gedächtnis erinnert mich regelmäßig daran, wie sehr Gladys mir seit ihrem Tod ans Herz gewachsen ist, während Annas Gestalt, so lebendig und präsent sie auch sein mag, im Laufe der Jahre allmählich verblasst.
    Etwa drei Jahre nach meiner Scheidung habe ich Anna Keller geheiratet. Mein Vater, der Gladys mit all ihren Schwächen liebte – in ihrer Gesellschaft trank er gern ein oder zwei Gläser –, zeigte sich gegenüber meiner neuen Lebensgefährtin reserviert. Eines Tages sagte er in einem Ton, in dem keinerlei Bewunderung mitschwang: »Sie wird ihren Weg machen.« Aus Gründen, die gewiss mit unserer Geschichte, unserer Herkunft und der Unerbittlichkeit des Gedächtnisses zusammenhängen, hat in unserer Familie keiner je besonderen Gefallen am Ehrgeiz gefunden, diesem dunklen Trieb, diesem seltsamen Durst der Seele. Und so dauerte es nicht lange, bis der Mann aus der Sneijder Fabriek begriff, dass er mit dieser jungen Frau bestenfalls ein paar Höflichkeiten auf einer Cocktailparty austauschen könnte. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch, bei dem sich mein nicht sonderlich geselliger Vater bemühte, Interesse an den Zukunftsplänen seiner Schwiegertochter zu heucheln.
    »Was für einen Abschluss haben Sie noch einmal gemacht?«
    »Einen Doktor in Mathematik, ein Statistikdiplom und einen weiteren Abschluss im Bereich Management und strategische Entscheidungen.«
    »Aha, also auch strategische Entscheidungen …«
    »Kennen Sie sich damit aus?«
    »Nein. Aber ich kann mir vorstellen, dass da viel Arbeit drinsteckt.«
    »Ja, unglaublich viel Arbeit.«
    »Sehr schön.«
    Ich denke, diese wörtliche Wiedergabe des Gesprächs zeigt ganz gut, wie viel diese beiden Menschen sich zu sagen hatten. Kurze, fleischlose Dialoge. Ein höfliches Morsen. Meine Mutter bemühte sich ihrerseits, einen herzlichen Umgang mit Anna zu pflegen, aber ich kannte Frau Doktor zu gut, um nicht zu sehen, dass sie sich bei allem Bemühen, die sogenannte Familie zusammenzuhalten, nur aus Anstand vertraulich gab. Im Übrigen sollte sich unser kleiner, ein wenig angeschlagener Familienkreis mit der Geburt der Zwillinge, Hugo und Nicolas, schon bald erweitern.
    Die beiden Jungs glichen sich nicht nur
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