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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder
Autoren: Jean-Paul Dubois
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schloss. An diesen unglaublichen Geruch im Sprechzimmer meiner Mutter, eine Mischung aus Kampfer und anderen, weniger klar erkennbaren Medikamenten. An den der Küche, die nur selten nach Küche roch, außer wenn mein Vater beschloss, eine seiner gefürchteten Erwtensoepen zuzubereiten, einen sämigen Erbseneintopf mit Schweinefleisch und Räucherspeck, an dem man regelrecht erstickte. Es gibt so vieles, das ich nicht vergessen habe, etwa den Kristallaschenbecher auf einer Ecke des Schreibtischs, denn damals rauchten Ärzte und Patienten noch während der Sprechstunde.
    All diese unnützen und flüchtigen Dinge sehe ich vor mir, sie sind derart präsent und lebendig, dass ich sie fast berühren, in meiner Hand halten und von allen Seiten betrachten könnte, wie das zerbrechliche Modell einer verschlafenen Welt.
    Auch weiß ich noch, wie mir damals bewusst wurde, dass die Einsamkeit meiner Eltern meiner eigenen in nichts nachstand. Außerhalb ihrer Arbeit trafen sie sich fast nie mit Freunden und luden auch niemanden zu sich ein. Allmählich begriff ich, dass die gesellschaftlichen Klassen hermetisch voneinander getrennt waren. Folglich gingen Ärzte nur selten bei Arbeitern zu Abend essen. Und mein Vater war einer. Lag es an seiner bescheidenen Herkunft oder an seinem unabgeschlossenen Studium, dass meine Mutter nie wagte, dieses Tabu zu brechen? Jedenfalls hat kein einziger Kollege meiner Mutter je bei uns am Tisch gesessen.
    Letztlich bin ich davon überzeugt, dass sich weder Maria noch Bastiaan an diesen Lächerlichkeiten stießen. Jahraus, jahrein gab sie zufrieden ihre Sprechstunden, während er vergnügt schimpfend in die Fabrik ging; und in der restlichen Zeit, denke ich, liebten sie sich einfach.
    Ich kann nicht behaupten, dass mein Gefühlsleben ebenso einfach und harmonisch wäre. Ich würde sogar sagen, es schwankt ständig zwischen Chaos und Verwirrung. Zweimal habe ich geheiratet. Was noch kein Beweis ist. Meine erste Lebensgefährtin hatte einen kaum aussprechbaren und nicht leicht zu tragenden Vornamen: Gladys. Gladys Valence. Ich rede von ihr in der Vergangenheitsform, denn sie ist im Jahr 2000 in der Silvesternacht gestorben. Man fand sie tot am Steuer ihres alten Cabriolets mit über dreieinhalb Promille im Blut. Der Wagen war offenbar nach einem Ausweichmanöver von der Straße abgekommen und in einen eiskalten Teich gestürzt, wo er bis zur Hälfte versank. So entdeckte man Gladys, bis zur Taille im Wasser, die Hände am Lenkrad – Herzstillstand wegen Unterkühlung. Als ich die Nachricht erfuhr, war ich erschüttert, aber keineswegs überrascht. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich Gladys während unseres gemeinsamen Lebens kein einziges Mal nüchtern gesehen. Und das ist kein bloßer Spruch. Seit dem Tag unserer Begegnung bis zu dem unserer Trennung habe ich sie immer nur mit einem Glas in der Hand gesehen, ganz gleich ob sie sprach, telefonierte, las oder arbeitete. Sie war eine unglaublich intuitive Frau, sensibel in der Wahrnehmung des Lebens, originell, zerstörerisch und selbstmörderisch, eine Frau, die sich stets in der Vorhölle des Alkohols aufhielt. Sie trank maßlos, aber, wie ich sagen muss, mit einer gewissen Eleganz, ohne je das geringsteAnzeichen von Kontrollverlust oder Trunkenheit zu zeigen. Wir waren uns bei einem unsympathischen Violinisten des Orchestre National du Capitole begegnet, mit dem sie mehr oder weniger was am Laufen hatte. An diesem Abend wurde ich Zeuge, wie der große Künstler nach einer langen und ergreifenden Lobrede auf sich selbst volltrunken in einem Ledersessel zusammenbrach, während die B&O-Lautsprecherboxen sich bemühten, einige Mitschnitte seiner Konzerte originalgetreu wiederzugeben. Ich glaube nicht, dass der Virtuose Gladys Valence je wiedergesehen hat. Vor ihrem Aufbruch verschwand sie ein letztes Mal in seiner Küche, um ein frisches Stück Butter der Marke Besnier in der Innentasche ihres Designerkostüms verschwinden zu lassen.
    Damals war ich 24 Jahre alt und hielt mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, die ich nach Lust und Laune und je nach Bedarf auswählte. Meine Begegnung mit Gladys warf dieses sorglose Leben gründlich über den Haufen. Innerhalb weniger Wochen verwandelte ich mich in einen verantwortungsbewussten Mann und nahm eine Anstellung in einem Unternehmen an, das auf Verbraucherumfragen spezialisiert war. Als Gladys schwanger wurde und im selben Rhythmus ein Glas nach dem anderen in sich hineinkippte, machte ich mir
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